Wer Schuld War
sechzehn, er hat keine Lust mehr auf Eltern, die ihn kontrollieren. Er
will seine eigenen Wege gehen. Ich war mit sechzehn genauso, du bestimmt auch.«
Nein, denkt Pilar, keiner von uns beiden war wie Philipp, aber das gehört zu den Dingen, über die sie mit Simon nicht sprechen
kann, denn Simon kann ihr nicht helfen, er hat ihr noch nie helfen können. Bevor Alexa ihn zum Schoßhündchen degradiert hat,
war er immerhin da für seinen Sohn, hat mit ihm geredet, war auch manchmal mit ihm Fußball spielen oder hat ihm bei wichtigen
Hockeyspielen zugesehen, aber aus Erziehungsfragen hielt er sich seit ihrer Trennung vor zehn Jahren komplett raus. Philipps
Groll über jede Form von Einschränkung, seine Unzuverlässigkeit, seine miserablen Schulleistungen, all das lastet auf Pilars
Schultern, und immer wieder bekommt sie beim Versuch, die Bürde etwas gerechter zu verteilen, einen Korb verpasst.
»Hat er in letzter Zeit irgendetwas … gesagt?«
»Was soll er denn gesagt haben?«
»Ich weiß nicht, das frage ich ja dich. Manchmal reden Söhne über bestimmte Sachen lieber mit ihrem Vater.«
»Das bilden sich Mütter immer gerne ein. Ich habe in meinem ganzen Leben nichts mit meinem Vater beredet, was in irgendeiner
Weise von Belang gewesen wäre.«
»Dein Vater war auch ganz anders als du. Er war streng und unnahbar. Zu dir hat Philipp Vertrauen. Er mag dich. Er braucht
dich.«
»Pilar. Hab keine Angst.«
»Ich habe keine …«
»Mit Philipp ist alles in Ordnung. Lass einfach locker. Mach dir nicht so viele Sorgen.«
»Du lebst ja nicht mit ihm.«
»Hör auf.«
»Das könnte dir so passen.«
»Du hättest mir doch Philipp niemals überlassen, Pilar. Die Frage hat sich ja auch gar nicht gestellt.«
»Wie meinst du das?«
»So, wie ich es sage. Ich
bin
Philipps Vater, ich
fühle
mich so …«
»Davon merke ich aber nichts mehr.«
»…aber du hättest mir die Hölle heiß gemacht, wenn ich versucht hätte, ihn dir wegzunehmen. Ist das so oder nicht? Sei ehrlich.«
»Ist das so oder nicht, dass ihr keinen Kontakt mehr habt, seitdem Alexa bei dir eingezogen ist?«
»Alexa …«
»…hat damit gar nichts zu tun. Ich weiß, Simon. Das ist alles nur ein Zufall. Das bilde ich mir alles nur ein.«
»Alexa ist schwanger.«
»Was?«
»Sie ist im vierten Monat. Ich wollte es dir in den nächsten Tagen erzählen.« Und jetzt klingt Simon wieder ganz anders, nämlich
wie ein Mann, der platzt vor Stolz und das nicht offen zeigen will. »Glückwunsch«, sagt Pilar, während ihr die Tränen in die
Augen schießen, und das nicht, weil sie Simon etwa noch lieben würde, sondern weil die Welt für Männer so beneidenswert einfach
ist. Männer nehmen sich einfach eine faule Studentin ohne Perspektiven wie Alexa, finanzieren deren Lebensunterhalt, schwängern
sie, und fertig ist die nigelnagelneue Familie, hübsch, jung, blitzblank wie aus der Waschmittelwerbung, während Pilar für
immer und ewig auf den Altlasten ihrer Vergangenheit sitzen bleiben wird, diesemschmutzigen Gemisch aus Liebe, Schmerz, Zorn und Sorgen. Das ist nicht in Ordnung, DAS IST EINFACH NICHT IN ORDNUNG. Sie legt leise den Hörer auf. Eine Minute später klingelt es, und sie hebt nur ab, weil sie wider jede Vernunft hofft, dass
es Philipp ist.
»Pi, was ist los? Die Leitung war plötzlich tot.« Natürlich ist es nur Simon, der gemerkt hat, dass er ihr wehgetan hat, und
das tut ihm jetzt leid und er würde es gern ungeschehen machen. Aber das geht nicht, und eigentlich ist sie auch froh, dass
sie es jetzt schon weiß und nicht viel später völlig unvermittelt damit konfrontiert worden wäre, wenn sie Alexa das erste
Mal mit dickem Bauch gesehen hätte. Denn natürlich hätte es ihr Simon nie von selbst erzählt, dazu kennt er sie ja viel zu
gut, und auch dieses Mal ist es ihm bestimmt nur aus Versehen herausgerutscht, oder weil er so unbändig stolz ist, dass er
sich nicht hat zusammenreißen können. Junge Väter laufen panisch vor der Verantwortung davon, alte Väter überschlagen sich
vor Begeisterung, wenn sie feststellen, dass sie noch imstande sind, ein paar fortpflanzungsfähige Spermien zu produzieren.
»Alles in Ordnung«, sagt Pilar so normal und gleichmütig, wie sie nur kann, und das gelingt ihr ganz gut; sogar die Tränen
sind in Sekundenschnelle versiegt, wahrscheinlich weil sie für solche Gefühle keine Zeit hat, schon gar nicht für einen Idioten
wie Simon, der sich
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