Wer Schuld War
Schreibtisch ihrer Kollegin,
die in Urlaub ist, während sie den Hörer wieder abhebt und Manuels mobile Nummer wählt, obwohl sie doch genau weiß, dass sein
Handy wahrscheinlich wieder abgeschaltet ist, weil ja Manuel, seitdem er seinen Job verloren hat, jede Notwendigkeit leugnet,
erreichbar zu sein, beziehungsweise für Barbara erreichbar zu sein.
Und genau so ist es, und Barbara muss nun Manuels Mailbox mitteilen, dass Paul gestorben ist. »Ich wollte dir nur sagen, dass
Paul gestorben ist«, selbst in ihren eigenen Ohren klingt das ziemlich seltsam, und ihr ist klar, dass Manuel beim Abhören
dieser Nachricht sofort merken wird, dass es ihr gar nicht um Paul geht.
Jeden Tag wird Manuel ein bisschen weniger präsent, manchmal scheint er sich direkt vor Barbaras Augen aufzulösen, verwandelt
sich in einen Schatten, der düster dräuend über ihrem Leben hängt, oder wird durchsichtig flimmernd wie eine Fata Morgana.
Du kannst mich nicht festhalten.
Sag mir, was ich falsch gemacht habe, und ich mache es richtig.
Du hast gar nichts falsch gemacht.
Du gibst mir keine Chance mehr? Keine einzige?
Ich bin ziemlich durcheinander.
Wenn du gehst, kommst du nie wieder!
Wenn du das wirklich glaubst, dann bist doch du diejenige, die unserer Beziehung keine Chance mehr gibt.
Ah ja. Das hast du dir ja schön ausgedacht! Jetzt bin ich schuld!
Barb …
Scheißkerl.
Es klopft an ihrer Bürotür, die Barbara zugemacht hat, etwas, das man hier eigentlich nicht tut, normalerweise steht jeder
jederzeit unter Beobachtung, aber Barbara ist jetzt alles egal, und nur so ist es zu erklären, dass sie ein mutiges »Nein!«
gegen die geschlossene Tür schleudert, auch das ein unglaublicher Verstoß gegen die herrschenden Sitten und Gebräuche. Eine
tiefe Frauenstimme ruft fragend »Barbara?«.
»Komm rein«, sagt Barbara kleinlaut und schnäuzt sich, während sich die Tür öffnet und Angela den Rahmen fast zur Gänze ausfüllt.
Angela trägt ein schwarzes gefältetes Issey-Myake-Kleid, das ihre üppigen Formen sanft umspielt und bis zum Boden reicht,
ihre Füße zieren bestickte Flipflops, sie ist braun gebrannt, sehr geschminkt und duftet nach »Le Jardin sur le Nil«, kurz,
sie sieht aus, als wäre sie auf dem Weg zu einer Abendveranstaltung, dabei ist es noch nicht einmal zwei Uhr. Was Barbara
schon längst nicht mehr auffällt, weil Angela jeden Tag so in der Redaktion erscheint, eine hochgewachsene, majestätische
Erscheinung mit rauer Stimme, die nun zuckersüß »Was ist los mit dir, Herzblatt?« fragt, während Barbara nichts Besseres einfällt,
als ihr einen Platz anzubieten. Angela lässt sich, kerzengerade wie eine Königin, auf dem Besucherstuhl nieder und schlägt
die Beine übereinander, während Barbara ihr die Sachlage in genau genommen nur einem Satz schildert: Manuel verlässt mich,
und mein bester Freund ist an einem Schlaganfall gestorben.
Angela sagt »Männer!«, und macht eine scherzhaft tuntige Handbewegung, was in Ordnung ist, weil man einfachnicht mehr von ihr erwartet, und Barbara sagt mehr zu sich als zu ihr: »Ich muss Manuel gehen lassen.« »Du musst gar nicht,
Schätzchen«, ist die lapidare Reaktion von Angela.
Barbara lächelt; eine kleine Hoffnung keimt in ihr auf, obwohl Angela das mit Sicherheit nur so dahingesagt hat, einfach,
weil sie gern und aus Prinzip widerspricht. »Du meinst, ich soll ihn festbinden?«
»Wenn dir daran liegt.«
»Ich weiß nicht.«
»Und jetzt lies dir mal diesen Text durch.«
Als Barbara abends nach Hause geht, ist sie beschwipst. Sie hat zwei oder drei Sprizz in Angelas Büro getrunken und dabei
zu viel aus ihrem Leben erzählt. Angela hat sich bei einigen Anekdoten über Manuels Marotten heiser gelacht und ihr außerdem
in einem Anfall von Großzügigkeit eine 1 4-Tage -Ampullenkur von Estée Lauder geschenkt, womit sie Barbara das Gefühl gibt, dass das Leben weitergeht und alles gar nicht
so schlimm ist, eine hübsche Illusion, die sofort verfliegt, als Barbara die Tür aufschließt und feststellt, dass Manuel nicht
da ist.
Barbara füttert die Katzen, anschließend raucht sie bei offener Balkontür, weil Manuel vor einem Jahr aufgehört hat und sich
sofort zum fanatischen Zigarettenhasser entwickelt hat, dann entfernt sie ihre Handtasche von der Herdplatte,
wo sie nichts zu suchen hat.
Angesichts ihres unaufgeräumten Schreibtisches gibt sie vor sich selbst zu, dass sie schlampig und
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