Wer Schuld War
lächerlich macht und es nicht einmal merkt. Also sagt sie in ruhigem Ton: »Ich muss jetzt aufhören, ich
melde mich irgendwann.« »Und sie ist sehr zufrieden mit der Art, wie sie ihm das
irgendwann
hingeworfen hat, nämlich als eine Art Almosen. Manchmal muss man so tun als ob, um etwas wahrzumachen, was nicht wahr sein
kann. An Simons betretenem Schweigen merkt sie, dass es ihr diesmal sogar gelungen ist, und sie legt auf, bevor sich diese
schäbige,aber doch irgendwie Kraft spendende Hoffnung als Irrtum erweisen kann.
Eine Stunde und mehrere erfolglose Telefonate später sitzt Pilar allein am Küchentisch, vor sich ein Glas Wein. Zwischen Zeige-
und Mittelfinger glimmt die erste Zigarette seit Monaten. Sie hat sie in Philipps Zimmer gefunden, zerkrumpelt in seinem Schreibtisch
liegend, wobei etwa die Hälfte des Tabaks sorgfältig herausgebröselt worden ist.
Sie hat bei den Eltern sämtlicher Freunde angerufen, die sie kennt. Die Freunde sind alle zu Hause, und angeblich weiß keiner
von ihnen, wo Philipp sich an diesem Abend aufhält. In Philipps Zimmer befindet sich außer seinem üblichen Chaos aus alter
Wäsche, Schulheften, Schulbüchern und der verräterischen Zigarette nichts, was ihr weitergeholfen hätte. Wobei sie zugeben
muss, dass sie nur sehr oberflächlich gesucht hat und sich deshalb nicht zum ersten Mal der Frage stellen muss, ob sie vielleicht
gar nichts finden wollte. Ein alarmierender Gedanke, denn er bezichtigt sie der Heuchelei und der Feigheit, und so verbannt
sie ihn ganz weit weg aus ihrem Bewusstsein, stopft ihn tief in jene Regionen, in denen sich all ihre höchstpersönlichen Minenfelder
befinden. Genüsslich zieht sie an dem halben Stummel, während der Rauch sie ganz auszufüllen scheint, der brandig-würzige
Geschmack tröstlich und köstlich ist, wie immer bei der ersten Zigarette nach langer Abstinenz. Wieder denkt sie an Paul,
überlegt, wo er jetzt wohl ist, wie es ihm geht, ob er ihr und Philipp verziehen hat. Tränen schießen ihr in die Augen, sie
wischt sie nicht weg. Paul fühlt sich so nah an, es ist, als könnte sie ihn sehen, als wäre er zurückgekommen. Ihr Telefon
klingelt, sie hebt ab, auf die nächste Enttäuschung gefasst. Und tatsächlich, es ist wieder nicht Philipp, sondern Barbara,
die sich erkundigt, ob Manuel bei ihr ist. Ihrer Stimmehört man an, dass sie keine Angst mehr davor hat, sich mit einem solchen Anruf lächerlich zu machen. Trotz ihrer eigenen Probleme
hört Pilar den abgrundtiefen Schmerz heraus und sagt behutsam, dass sie keine Ahnung habe, wo Manuel ist.
Sie ist froh, dass es stimmt.
BARBARA
Als Barbara von Pauls Tod erfährt, sitzt sie in ihrem Büro, hat das Lamellen-Rollo heruntergelassen, damit die Abendsonne
sie nicht blendet, und brütet über einem Text zum Thema Vertrauen, der warm, ernsthaft, zart ironisch, souverän und leicht
sein soll, süß, mit einem bitteren Beigeschmack, intelligent, aber nicht hochtrabend, differenziert, aber nicht kompliziert,
für jeden verständlich und trotzdem originell. Aber kein Text wird so, wenn man sich in der falschen Stimmung befindet, sich
verschwitzt und klebrig fühlt, und niemandem mehr vertraut, am wenigsten seinem Schicksal, das in der Vergangenheit trotz
diverser Krisen letztlich immer alles zum Guten gewendet hat, und sich nun benimmt, als sei man plötzlich persona non grata
geworden.
Sie löscht den letzten Absatz, in dem es um Vertrauen als spirituelle Grundlage jeder Beziehung geht, drückt dann auf die Z-Taste , die den Vorgang wieder rückgängig macht, und schon taucht der Absatz aus den Tiefen der Festplatte wieder auf, grinst sie
hämisch an, bis sie ihn zur Strafe endgültig vom Bildschirm wischt. Dann klingelt das Telefon, und es ist eine weinende Pilar.
Nachdem Pilar aufgelegt hat – das Gespräch hat kaum fünf Minuten gedauert, denn es gibt nur so wenig zu besprechen; jede angebotene
Hilfe hat Pilar freundlich, aber bestimmt abgelehnt – überlegt Barbara, sich freizunehmen und nach Hause zu gehen. Dann fällt
ihr ein, dass es zu Hause nicht besser sein würde als hier.
Sie versucht, Manuel zu erreichen, und erwartungsgemäß läuft an ihrem gemeinsamen Festnetzanschluss der Anrufbeantworter,
und sie hört ihre eigene muntere Stimme aus besseren Zeiten, die sie im Moment kaum ertragen kann, und deswegen sofort die
Verbindung abbricht, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Dann starrt sie auf den ungewohnt leeren
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