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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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passiert ist. In Philipps Magen zieht sich alles zusammen.
     Die Angst schnürt ihm die Kehle zu.
    »Mama«, flüstert er. »Mama, ich muss dir was sagen.«
    »Hilf mir!«
    »Mama   …«, seine Stimme wird lauter.
    »Was denn?«
    »Ich muss dir was sagen. HÖR MIR ZU!«
    Sie kniet immer noch. Pauls Kopf liegt auf ihrem Schoß, seine halb geschlossenen Augen scheinen Philipp zu fixieren, und Philipp
     weiß, dass jetzt Schluss ist mit den Lügen und den Geheimnissen, weil Paul alles weiß, weil Paul ihn jetzt sieht, in dieser
     Sekunde, und über ihn urteilt.
    »Ich war gestern bei ihm.«
    »Du warst bei Paul?«, fragt seine Mutter ungläubig, aber er antwortet nicht.
    »Ich will wissen, was gestern passiert ist«, sagt sie, und ihre Stimme ist sehr leise und gleichzeitig klar, er hört die Panik
     heraus, aber auch ihre Entschlossenheit, die ihn retten würde.
    »Ja.«
    »Ich will alles wissen. Von Anfang an.«
    »Ja.«
    »Und dann werden wir sehen, was wir tun können.«
    »Bitte   …«
    »Was?«
    »Ich will nicht reden, wenn er   … da so liegt.«
    »Er ist tot, Philipp.«
    »Ich weiß. Es tut mir leid.«
    »Was hast du damit zu tun? WAS HAST DU DAMIT ZU TUN?«

PAUL
    In der letzten Nacht seines Lebens träumt Paul von vielen bunten Kugeln, die klackernd auf einer weißen Fläche hin- und herrollen,
     manchmal sogar ausgelassen übereinander hinweghüpfen; verzückt sieht er ihnen zu, wie sie immer neue, chaotisch-zufällige
     Muster bilden und sich schließlich zu einem Satz fügen.
    Bleib doch da.
    In beinahe derselben Sekunde sitzt Paul aufrecht im Bett, hellwach, aber mit einem Rest schlaftrunkener Verwirrtheit.
    Er nimmt sich Block und Bleistift von seinem Nachttisch und notiert sich das Traumfragment.
    Als er in die Praxis radelt, vertieft er sich noch einmal in seine nächtliche Vision, denkt an die bunten Kugeln in strahlenden
     Primärfarben, die möglicherweise eine kindliche Sehnsucht nach Spaß zeigen, wohingegen ihm das Klackern als unangenehm penetrantes
     Geräusch in Erinnerung bleibt, und der Satz als Ermahnung, bei der Stange zu bleiben, sich nicht zu verzetteln, nicht länger
     irgendwelchen hübschen Illusionen nachzuhängen, für die er zu erwachsen sein sollte. Der Satz, erkennt er, ist das unangenehmste
     Detail des Traums, und prompt bildet sich vor ihm ein Stau, wäre er fast an einer Stoßstange gelandet, fängt sich aber dann
     doch und überholt mit einem flotten Schlenker den grauen Mini mit offenem Verdeck. Er hat eine Sekunde lang Augenkontakt mit
     einer blonden Frau, die lächelt, woraufhin er zurücklächelt und weiterfährt.
    Bleib doch da.
    Er kann nirgendwo bleiben. Seine Gefühle sind immer in Bewegung.
     
    Seine erste Klientin an diesem Morgen heißt Gisela Fresel, Leiterin eines Kindergartens und Ehefrau eines erfolgreichen Bauunternehmers.
     Sie ist wie immer dezent und sorgfältig geschminkt und trägt heute einen blauen Hosenanzug, der wahrscheinlich teuer war,
     denn Frau Fresel achtet sehr auf Qualität, wie sie nicht müde wird, zu betonen.
    Ihr dunkelblondes Haar ist kurz geschnitten, die Ohren zieren etwas zu große goldfarbene Clips mit jeweils einem schwarzen
     Stein darin, vielleicht ein Onyx. Sie sitzt wie immer sehr gerade, hält die Hände auf dem Schoß gefaltet und spricht langsam,
     deutlich und so überlegt, als habe sie sich alles vorher notiert und anschließend auswendig gelernt. In dieser Stunde berichtet
     Frau Fresel von ihrem neuen Plan, schwanger zu werden, was nichts Überraschendes ist, denn Frau Fresel, hat Paul längst festgestellt,
     lebt für ihre Pläne und verwechselt sie mit seelischem Fortschritt.
    »Ich denke«, sagt sie auf ihre würdevoll gemessene Art, »der richtige Zeitpunkt wäre jetzt erreicht.«
    »Ich verstehe«, sagt Paul neutral, obwohl er sich innerlich krümmt, denn wenn es Frauen gibt, die besser keine Kinder bekommen
     sollten, dann gehört Frau Fresel eindeutig dazu; ein Kind wäre in ihrem Fall lediglich eine neue Möglichkeit, sich zu überfordern,
     ein Hobby, dem sie sich mit pathologischer Hingabe widmet, was einer der Gründe ist, weshalb nach so vielen Wochen regelmäßiger
     Sitzungen keine Veränderung festzustellen ist.
    »Ich denke, ich bin nun reif genug, eine Familie zu gründen«, fährt Frau Fresel fort, wie immer unempfindlich für atmosphärische
     Störungen.
    »Sie sind das vielleicht. Aber wie sieht es mit Ihrem Mann aus?«
    »Er wird es auch wollen.«
    »Haben Sie ihn denn schon gefragt?«
    »Nun

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