Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
mich, ob es dort unten Ratten gegeben hatte.
»Warum ist er gestorben?«, flüsterte ich.
Mein Vater seufzte. »Ich habe ›Erschöpfung‹ auf den Totenschein geschrieben. Das hat Harrison ganz und gar nicht gefallen.«
»Harrison ist der Mann mit dem großen Hut und der Pfeife?«
»Ja. Er leitet die Mine und alles um sie herum. Er hat sich die größte Mühe gegeben, mir zu erklären, dass die Arbeit des Jungen nicht mühsam war und dass ›Erschöpfung‹ seiner Ansicht nach nicht die Ursache für seinen Tod wäre. Ich wies ihn darauf hin, dass Erschöpfung die verschiedensten Ursachen haben kann, darunter Hunger und Angst. Schwieriger nachzuweisen, aber genauso real ist der Verlust jeglicher Hoffnung. Ich glaube, das Kind starb, weil es keinen Grund mehr sah weiterzuleben. Doch das ist meine private Meinung und keine medizinische. Ich werde dem Gericht sagen, dass das Kind an Nahrungsmangel und allgemeiner Kraftlosigkeit gestorben ist.«
Plötzlich hämmerte er mit der geballten Faust auf das Geländer, an das die Zügel gebunden waren. »Es hätte nicht passieren dürfen! Seit zwei Jahren ist es gesetzlich verboten, einen Knaben von weniger als zehn Jahren – oder ein Mädchen oder überhaupt eine Frau, ganz gleich wie alt – unter der Erde arbeiten zu lassen! Harrison weiß das ganz genau!«
»Und?«, fragte ich. »Wird man Mr Harrison dafür bestrafen?«
»Was?« Mein Vater klang amüsiert, doch auf eine eigenartig freudlose Weise. »Nein, mein Kind, niemand wird bestraft werden. Harrison wird sagen, dass er nicht wusste, wie jung das Kind gewesen ist. Die Eltern werden entweder eingeschüchtert oder bestochen, sodass sie vor Gericht bestätigen, die Unwahrheit über das Alter ihres Sohnes gesagt zu haben. Ich bezweifle, dass es auch nur zu einer Geldstrafe kommen wird. Oder, falls die Besitzer der Mine bestraft werden, dann mit einer lächerlich geringen Summe. Aber es wird nicht wieder passieren! Ich werde dafür sorgen! Ich werde einen derartigen Wirbel veranstalten, dass Harrison trotz all seiner Sturheit und seines Mangels an Moralempfinden es nicht mehr wagen wird, noch einmal ein so junges Kind in die Grube zu schicken!«
Er wickelte die Zügel los und schüttelte sie, und das Pony setzte sich wieder in Bewegung. Der Glücksbringer war in meiner Tasche. Ich nahm mir vor, ihn meinem Vater in einem geeigneten Augenblick zu zeigen, doch das konnte noch eine ganze Weile dauern. Das Pony fühlte, dass es auf dem Rückweg in den behaglichen Stall war und trottete geschwind und mit aufgerichteten Ohren seines Weges, und bald waren wir wieder daheim.
Als mein Vater mich ins Haus führte, wurden wir erneut von den Tränen einer Frau begrüßt. Molly Darby saß auf der Treppe und hatte die Schürze vors Gesicht gedrückt. Sie weinte sich die Augen aus dem Leib, weil ich nirgendwo im Haus zu finden gewesen war und weil man ihr die Schuld dafür gab. Sie wurde auf das Heftigste von Mary Newling gescholten, die mit in die Seiten gestemmten Fäusten vor ihr stand und sie beschuldigte, ein faules, verschlafenes Ding zu sein, das der Doktor aus dem Haus scheuchen würde, sobald er wieder zurück war, sie würde schon sehen, und ohne jedes Zeugnis obendrein. Miss Elizabeth konnte überall sein und würde vielleicht nie wieder gesehen werden! Das arme kleine Kind war möglicherweise von Zigeunern entführt worden, in einen Gully gefallen oder von einem Karren überfahren worden! Die Fahrer dieser nächtlichen Karren waren beinahe immer betrunken, wie jedermann sehr wohl wusste.
»Holla, aber hier ist sie doch«, sagte mein Vater und schob mich nach vorn, um zu beweisen, dass ich von all diesen schrecklichen Szenarien verschont geblieben war.
Molly kreischte und sprang auf, um mich zu sich zu ziehen und an ihren gewaltigen Busen zu drücken.
»Oh, Sir! Oh, Miss Elizabeth! Wo hast du nur gesteckt? Ich schwöre, Sir, ich habe um Punkt sieben nach ihr gesehen, und sie war verschwunden! Ich habe nicht einen Laut gehört!«
»Bringen Sie sie nach oben, und machen Sie sie sauber«, sagte mein Vater müde. »Mary, seien Sie bitte so freundlich und machen Sie mir einen Tee.«
Ich blickte nach unten und sah, dass meine Hände und Kleider von einer dünnen Schicht Kohlenstaub bedeckt waren, wie er über den Minen ständig in der Luft hing. Vermutlich sah mein Gesicht genauso aus.
Während ich von Molly die Treppe hinaufgetragen wurde, rief mein Vater hinter uns her.
»Warten Sie!«
Wir blieben stehen. »Ja,
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