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Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Prokop
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gleich fielen alle ein: »Wir fordern Drops!«
    Als sie einen Hauptweg erreichten, schwenkte der Zug ein. Bald schlossen sich Passanten an, aber sie schrien nicht nach Drogen, sondern wandelten den Spruch der Elenden ab: »Wir fordern Jobs! Wir fordern Jobs!« Die freudig erregten Gesichter und die fiebrigen Augen verrieten, daß sie vor nicht allzu langer Zeit mit euphorisierenden Aerosolen beschossen worden waren, die ihnen jetzt, statt Spielleidenschaft anzufachen, Mut gaben, öffentlich zu demonstrieren. Der Zug wurde immer dichter. Puissant wurde von Timothy weggetrieben, dafür tauchte plötzlich Smiley auf; er ruderte verzweifelt mit den Armen. Timothy konnte nicht ausmachen, ob es ihm gelang, aus der Demonstration zu entkommen.
    Dann kam der Zug ins Stocken, die Leute drängten zurück, schrien, Timothy wurde umgerissen, hatte Mühe, den trampelnden Füßen zu entgehen und sich wieder aufzurichten, stand plötzlich allein, in der vordersten Reihe, nur wenige Meter vor einer Kette Polizeipanzer.
    Links und rechts der Straße wuchsen Stahlplastwände aus dem Boden, kleine graue Würste lösten sich von den Panzern, blähten sich auf, rückten unaufhaltsam vorwärts; als sie Timothy erreichten und nach hinten schoben, waren sie schon zu Mannshöhe gewachsen. Timothy wollte davonrennen, aber er konnte sich nicht bewegen, Lichtblitze flammten, Ultraschallstöße ließen seine Muskeln zittern, ihm wurde speiübel, in den Ohren hämmerte es. Panischer Schrecken erfaßte ihn. Neben ihm fiel jemand in epileptische Krämpfe. Dann schossen die Photicdriver aus den Panzertürmen und ließen seine Gehirnströme flackern, gleich darauf überfiel ihn ein Gefühl der Leichtigkeit, unbändige Freude; rote, gelbe und blaue Schleier waberten durch sein Gehirn, er war glücklich, willenlos glücklich. Er merkte nicht einmal mehr, wie ihn dichter Schaum einhüllte, der zu einem harten Panzer verkrustete, aus dem nur noch sein Kopf herausragte.
    5.
    Er erwachte in völliger Finsternis, von Brechreiz gequält, schädelzersprengendes Dröhnen in den Ohren, ziehende Schmerzen in allen Muskeln, die Augen brannten. Timothy nahm alle Kraft zusammen und streckte die Hände aus. Als er sein Bein berührte, merkte er, daß er nackt war. Er tastete sich ab. Vollständig nackt. Der Boden war spiegelglatt.
    Timothy richtete sich vorsichtig auf, balancierte verzweifelt, um nicht auszugleiten, seine Hände stießen gegen eine gläserne Wand. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen, ruhte sich aus. Wie lange? Timothy zählte bis hundert, dann tastete er sich an der Wand entlang bis zu einer Ecke. Auch die nächste Wand war gläsern.
    Die Schmerzen überwältigten ihn, er mußte sich wieder zu Boden sinken lassen. Er versuchte sich zu erinnern, es gelang ihm nicht. Das Hämmern und Dröhnen im Kopf wurde immer wütender. Sein Schädel schien ins riesenhafte zu wachsen. Dann schwanden ihm die Sinne.
    Als er wieder zu sich kam, blickte er in zwei riesige Augen. Sie nahmen die ganze Breite der Wand ein. Auch von den anderen Wänden starrten ihn die Augen an. Lebendige Augen, die Lider zuckten. Video, dachte Timothy. Er war glücklich, wieder denken zu können. Er mußte in einer der berüchtigten Videokammern der NSA gelandet sein. Seine Erinnerung setzte langsam wieder ein. Die Barriere. Die Demonstration. Puissant Die Augen wurden kleiner, und rund um sie wuchs ein Gesicht auf die Wände, das Gesicht eines Mannes von etwa dreißig Jahren, ein glattes Allerweltsgesicht.
    »Ich bin dein Confessor«, sagte es, »und du wirst mir alles beichten. Alles. Oder ich lasse dich fallen.«
    Das klang leidenschaftslos, sachlich, und doch fühlte Timothy eine Bedrohung. Dann entdeckte er, warum. Er sank, erst langsam, dann immer schneller in den Boden; das Gesicht sah teilnahmslos zu, blickte immer kleiner werdend über den dunklen Rand einer Schlucht, in die der gläserne Käfig stürzte. Timothy versuchte unwillkürlich, sich irgendwo anzuklammern, aber nirgends war Halt. Sein Herz schlug rasend, er keuchte, rang nach Luft, die vorbeisausende trübe Luft des Schachts heulte, unter seinen Füßen konnte er die Sohle der Schlucht erkennen, noch hundert Meter, neunzig, achtzig – gleich würde der gläserne Boden auf den spitzen Felsen prallen. Noch nie in seinem Leben hatte Timothy solche Angst empfunden. Er schloß die Augen, doch das erhöhte nur die Angst. Er zwang sich, sie wieder aufzureißen. Sein Käfig stand! Hinter den Wänden schimmerte quarziger

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