Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
Stein. Timothy blickte zu Boden. Einen Meter weiter, und er wäre zerschellt.
Mit einem Schlag verschwanden die Felsen, und das Gesicht blickte ihn wieder überlebensgroß von allen Seiten an. Immer noch gleichmütig. »Oder ich lasse dich fallen«, wiederholte der riesige Mund. Wiederholte er – oder war es noch der gleiche Satz? Wie lange hatte der Sturz gedauert? Hatte es ihn überhaupt gegeben? War es eine Videoprojektion, oder hatten sie es direkt in sein Gehirn eingespielt?
Timothy strich sich über die Stirn. Seine Todesangst war echt gewesen, er fühlte Schweißtropfen. Nur wenige. Also hatte das Ganze nur Sekunden gedauert. Also Video. Er fühlte sich erleichtert.
»Mein Name ist Frank A. Devlin«, sagte das Gesicht. »Ein treffender Name, findest du nicht? Du solltest in der Tat frank und frei zu mir sprechen, freimütig und aufrichtig. Und Devlin – erinnert es dich auch an devil? Es liegt an dir, ob ich für dich der Teufel bin oder ein Engel. Das A in meinem Namen steht für angel. Also entscheide dich!«
»Ich«, quetschte Timothy heraus, »ich –«
»Komm, sei aufrichtig«, fuhr Devlin unbeeindruckt fort. »Erzähle, gestehe. Jeder Mensch hat etwas zu gestehen. Fang irgendwo an. Wir haben Zeit. Viel Zeit.«
Er ließ Timothy keine Zeit. Er riß den riesigen Mund auf, einen Mund voller weißer, fast unplombierter Zähne, wie Timothy registrierte, und brüllte los: »Gestehe! Gestehe! Gestehe...«
Der Mund wurde wandbreit; nur noch ein zuckendes, schnappendes, alles verschlingen wollendes Maul klappte rundum auf und zu und brüllte. Timothy hielt sich die Ohren zu, um es ertragen zu können, doch die Worte erfaßten den Schädel, den ganzen Körper, ließen ihn vibrieren, immer stärker, daß der Kopf zu platzen drohte: »Gestehe! Gestehe!«
Timothy schrie, so laut er konnte, um diese Stimme zu übertönen, er brüllte, heulte, jaulte, Tränen rannen ihm über die Wangen, sein Körper war schweißnaß.
Der Mund schrumpfte. Devlins gleichmütiges, freundliches Gesicht erschien. »Denke nach. Erinnere dich. Erforsche dich. Und dann gestehe. Und wenn du nicht reden willst – wer weiß, vielleicht hast du geschworen, daß nie ein Wort über deine Lippen kommen soll? –, dann schweige. Du mußt nichts sagen. Du mußt es nur denken. Ich denke mit deinen Gedanken. Du kannst mir nichts verheimlichen. Nichts, nichts, nichts...«
Das Gesicht verschwand. Timothy saß in einem Spiegelkäfig. Sein Spiegelbild und der Echoeffekt brachten ihn wieder zu sich. Er konnte sogar grinsen. Effekthascherei, dachte er. Eine Nummer zu groß für den kleinen Timothy.
Er brauchte ein paar Minuten, sich an seine neue Umwelt zu gewöhnen, das Schwindelgefühl und den Brechreiz niederzukämpfen, den sich rundum bis zur Unendlichkeit spiegelnden, immer kleiner werdenden, milliardenfachen Timothy Truckle zu ertragen, dann rutschte er in eine Ecke, legte die Fingerspitzen an die Stirn und schob sie Millimeter für Millimeter vorwärts, tastete die Kopfhaut systematisch ab, um festzustellen, ob sie ihm eine Sonde eingepflanzt hatten. Er konnte nirgendwo einen Einstich oder eine Narbe oder einen frischen Plastverband finden. Also war es nur Bluff mit dem Gedankenlesen. Und das ihm!
Er schloß die Augen und mobilisierte sein Gedächtnis, rief sich den Vorgang wieder zurück, Phase für Phase und Wort für Wort.
Plötzlich wußte er es. Er erinnerte sich, wie er gestottert hatte, etwas sagen wollte – was? Egal, da hatte der andere nicht im mindesten reagiert. Timothy durchdachte die Situation noch einmal, ließ sie noch ein drittes und viertes Mal Revue passieren und wurde vollends sicher: Das war keine auf ihn gerichtete Begrüßungszeremonie gewesen, sondern ein automatisch ablaufendes Programm, sicher für alle Häftlinge gleich, um die Neuankömmlinge zu erschrecken, einzuschüchtern, willenlos zu machen.
Timothy faßte Mut. Jetzt, da er es durchschaut hatte, war er in der Lage, sich auch auf kommende Situationen einzustellen. Der Bann war gebrochen. Gut, den ersten Zug dieses psychologischen Kampfes hatten die da gewonnen, aber schon mit dem zweiten hatte er gleichgezogen. Er konzentrierte sich, um nicht den Spiegelbildern zum Opfer zu fallen; irgendwo mußte etwas sein, durch das sie ihn beobachteten. Er fand nichts. Er rief: »Hallo!« Immer wieder. Dann: »Ich will jemand sprechen.« Keine Antwort. »Mister Devlin!« Rundum nur Schweigen.
Timothy legte sich hin und schloß die Augen. Er mußte sich vorbereiten.
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