Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater
da, dem Sextanten, verstehe ich gar nichts. Funktioniert er einwandfrei?«
»Hundertprozentig. Wir schwimmen praktisch im Nichts.«
Shirley starrte ins Wasser. Plötzlich lief ein Zucken über ihn, er beugte sich vor, und Bäcker starrte in Augen, wie er sie bei Shirley noch nicht gesehen hatte. Etwas Erschreckendes lag in ihnen, als sei in seinem Inneren etwas geplatzt und suche jetzt durch die Augen den Weg nach draußen. Er drückte die Stirn gegen den krüppeligen Segelmast und riß die Seekarte Bäcker von den Knien.
»Sie machen mich verrückt mit Ihrer Karte!« stöhnte er. »Immer diese Karte! Immer auf dieses Nichts starren! Das ist ja schon Geilheit, verdammt noch mal! Ich will nicht mehr wissen, wo ich bin. Ich will Hoffnung haben, verstehen sie, Hoffnung! Ich will an das Leben glauben – und Sie sitzen da herum und tippen mit Ihrem Zeigefinger auf den Tod! Das halte ich nicht mehr aus!«
Er packte die Karte mit beiden Händen und riß sie mittendurch. Bäcker schnellte den Oberkörper vor, aber ein Fausthieb gegen die Brust ließ ihn zurückfallen. Der Einbaum schwankte und rollte bedenklich.
»Shirley!« schrie Bäcker und klammerte sich an der Bordwand fest. »Mein Gott, drehen Sie jetzt nicht durch! Die Karte ist für uns so wichtig wie das Wasser! Shirley! Sie Vollidiot! Sie bringen uns alle um!«
Shirley zerfetzte die Seekarte in kleine Stücke und warf die Schnipsel dann ins Meer. Er lachte dabei, und dieses Lachen gefror auf Bäckers Haut. Es lag ein Klang in diesem Lachen, der unmenschlich war.
»Holen Sie sich Ihr Satansblatt!« schrie Shirley und hieb mit dem Paddel auf die neben dem Einbaum treibenden Papierfetzen. »Da haben Sie endlich einen Grund, über Bord zu gehen! In vier Tagen sind Sie sowieso dran, Werner! Warum nicht gleich jetzt? Hoffen Sie, daß ich die Nerven verliere? Das ist eine Fehlspekulation. Ich war nie so klar wie jetzt! Ich weiß genau, was ich tue! Aber Sie nicht mehr! Los, springen Sie! Da schwimmt Ihre verfluchte Karte. Und da sind auch zwei Haie. Die Nachtschicht, mein Lieber! Hinein in die Suppe … Es geht schnell. Wenn Sie Angst haben vor den paar Minuten Schmerzen, kann ich Ihnen auch eins unters Kinn geben und Sie über den Rand rollen.«
»Halten Sie den Mund, Paul, und versuchen Sie zu schlafen«, sagte Bäcker heiser. »Morgen geht's Ihnen besser. Es war ein Fehler von mir, Ihnen unsere Position zu zeigen.«
Nach drei Stunden schlief Shirley endlich ein, an den Mast gekauert. Es war die einzige Möglichkeit, und er hatte sich auch daran gewöhnt. Als er laut zu schnarchen begann, hob Anne unter ihrer Decke den Kopf.
»Er wird irrsinnig werden«, sagte sie leise. »Ich sehe es schon seit zwei Tagen. Was machen wir dann mit ihm?«
»Du hast alles gehört?« fragte er entsetzt.
»Heute ja. Aber ich glaube, ich habe manches verschlafen. Was heißt: ›In vier Tagen sind Sie dran?‹«
»Er hat irre geredet, Anne.«
Er zog die Decke bis zum Kinn, starrte mit seinen lidlosen Augen in die Sterne und dachte: Ich kann es ihr nicht sagen. Sie würde es nie verstehen, daß wir mit zwei Fingerknochen um unser Leben gelost haben. Aber ich habe verloren, und ich werde den Preis zahlen. »Du lügst schon wieder«, sagte Anne. Ihre Stimme war sanft, und diese Zärtlichkeit war schlimmer für ihn, als wenn sie ihn angeschrien hätte. »Liebling, ich bekomme ein Kind von dir. Meinst du nicht, daß ich ein Recht habe, die Wahrheit zu erfahren?«
»Shirley hatte einen Anfall, du hast es gehört. Er wußte nicht mehr, was er sagte.« Bäcker legte einen Lappen über sein Gesicht. Auch die Nacht war zu hell für seine gequälten Augen. »Morgen ist alles vergessen.«
»Und die Seekarte?«
»Wir brauchen sie wirklich nicht mehr, Anne.«
Sie fragte nicht weiter, legte sich zurück, zog die Decke über sich und tat, als ob sie schliefe.
Wie tapfer sie ist, dachte Bäcker. Wie rätselhaft tapfer. Woher nimmt sie nur die Kraft, Lügen zu glauben und Hoffnungslosigkeit nicht zu sehen? Ist es ihre Liebe zu mir oder das Kind, das sie erwartet? Was macht sie so unheimlich stark, stärker als ich bin? Ich weiß, daß ich nur noch vier Tage und Nächte zu leben habe. In der fünften Nacht werde ich mich ins Meer fallen lassen. Davor habe ich Angst. Es wäre dumm, das nicht zu gestehen. Ich bin kein Held, und ich bezweifle, daß es überhaupt Helden gibt. Nur die Situation macht aus einem den Helden, der man gar nicht sein will. Jeder Mensch lebt viel zu gern – wenn er
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