Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater
hatten große Mühe, das Schaukeln durch Gegenbewegungen aufzufangen und das Boot wieder ins Gleichgewicht zu kriegen.
»Junge, das war ein Mordversuch«, sagte Shirley leise. Seine Augen veränderten sich erneut. Sie wurden rötlich wie sein Bart. Bäcker erschrak. Er hatte den Ausdruck von ›blutunterlaufenen Augen‹ für eine Redensart gehalten. Shirley bewies ihm nun, daß es so etwas tatsächlich gab. Sein Blick war starr, glasig und böse wie bei einem gereizten Bullen. »Sie wollten mich ins Meer kippen, was? Zu den Haien?! Sie Dreckskerl!«
»Shirley, fangen Sie nicht an zu spinnen! Wenn das Boot umkippt, sind wir alle dran! Ziehen Sie die Decke über sich. Das Salz brutzelt ja auf ihrer Haut!«
»Ich kann mit meinem Salz machen, was ich will!« brüllte Shirley. »Hören Sie auf, hier zu befehlen. Hören Sie auf! Sie hinterlistiger Schuft wollten mich zu den Haien kippen!«
Er riß die Decke von sich, streifte sein Hemd vom Oberkörper und saß entblößt in der höllischen Sonne. Sein Blick war leer.
Man sollte ihn jetzt zwingen, vernünftig zu sein, dachte Bäcker. Aber als er in Annes Augen blickte, verzichtete er darauf, Shirley einfach niederzuschlagen.
Stundenlang hockte Shirley mit bloßem Oberkörper in der Glut. Er paddelte sogar mit, aber er sprach kein Wort mehr. Mittags kaute er sein Trockenfleisch wie ein Tiger, am Nachmittag umklammerte er plötzlich den Mast und begann, mit der Stirn gegen die Stange zu schlagen. Immer und immer wieder, bis die Stirnhaut aufplatzte und das Blut über sein Gesicht strömte. »Betty!« schrie er dabei. »Betty! Betty!«
Schließlich biß er in den Mast und heulte schauerlich. Seine Zähne hackten Splitter aus dem Holz.
Bäcker hatte alle Mühe, das Schwanken des Einbaums auszugleichen. Ein paarmal schrie er Shirley an, hieb mit seinem Paddel gegen dessen Schultern, als Shirley sich in den Mast festbiß. Und als Anne von hinten mit dem stumpfen Ende des Bambusspeeres Shirley in den Rücken stieß, brüllte dieser auf und klammerte sich an dem Mast fest.
»Sie töten mich, Betty!« kreischte er. »Sie werfen mich den Haien vor. Mörder! Mörder! Betty, sie fallen über mich her wie die Geier!«
Bäcker versuchte an Shirley heranzukommen. Aber wenn er sich ihm auf Reichweite näherte, hieb Shirley mit den Fäusten um sich, und Bäcker mußte sich wieder um das Gleichgewicht des Bootes kümmern. Als sähen oder hörten die Haie das beginnende Drama, kamen sie näher heran und zogen ihre Kreise immer dichter um den Einbaum.
»Paul!« schrie Bäcker. Er stieß Shirley mit dem Paddel gegen die Brust. Das Blut aus der Stirnwunde hatte Shirleys Gesicht völlig überströmt, der Bart war vollgesogen, und jetzt tropfte das Blut aus dem roten Haarwald heraus über den entblößten Oberkörper.
Er wird es nicht mehr lange aushalten, dachte Bäcker schaudernd. Das Salz frißt sich in die Wunde hinein, und wenn er noch nicht völlig wahnsinnig ist, wird er's in ein paar Stunden sein. Man kann ihn nur noch retten, wenn man ihn überwältigt. Aber wie ist das möglich in einem schwankenden, schmalen Einbaum?
»Paul!« brüllte er noch einmal. »Sehen Sie mich an! Erkennen Sie mich, Paul?«
»Sie Halunke!« kreischte Shirley. »Sie hinterlistiges Aas! Und ob ich Sie erkenne! Sie wollen Betty haben! Meine Betty! Ich beobachte Sie schon seit Wochen! Seit Sie in Papeete sind, habe ich keine Ruhe mehr. Ich liebe Betty, sage ich Ihnen, und ich schlage Ihnen den Schädel ein, wenn Sie ihr weiter nachstellen. Sie geiler Hund, Sie verfluchter!«
Er biß wieder in den Mast und heulte tierisch. Bäcker gab es auf. Es hatte keinen Zweck mehr, Shirley durch Anbrüllen aus seinem Wahn zu reißen. Mit jeder Stunde in dieser glühenden Sonne und auf diesem schimmernden Meer zerfiel ein Stück seines Gehirns; noch zwei oder drei Tage, und Shirley war eine leere Hülle.
Drei Tage mit einem Wahnsinnigen in einem Einbaum mitten auf dem Pazifik … Bäcker wagte nicht, Anne anzusehen. Als er es später doch tat, sah er sie ruhig zwischen ihren Vorräten sitzen und Trockenfisch in Streifen schneiden.
Das Abendessen.
Welch eine Frau, dachte er. Mit ihr kann man durch die Hölle wandern … um den Himmel zu erreichen.
Shirley verweigerte an diesem Abend die Mahlzeit. Er schlug Anne die Trockenfischstreifen aus der Hand und keifte: »Ich lasse mich nicht vergiften! Ihr überlistet mich nicht! Ihr nicht!«
Dann versuchte er zu angeln, hatte Glück und zog an der Leine aus
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