Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater
immer gut mit mir gemeint. Man soll nicht undankbar sein, gerade nicht in der letzten Stunde.«
Das Schreiben und das Wegwerfen der Flasche hatte ihn sehr angestrengt. Er legte sich vorsichtig zurück – Bein, halt still, halt bloß still, dachte er dabei –, zog die Decke über seinen Kopf und beschloß, sich auszuruhen. Da er entdeckt hatte, wie schön es war, mit sich selbst zu reden, sagte er nach einer Weile:
»Du mußt zuerst eine Schiene für dein Bein machen. Gib nicht auf, mein Junge. Laß dich von deinem Bein nicht einfach unterkriegen. Kämpfe! Und später mußt du dir Krücken machen. Es ist alles nur eine Frage der Zeit, denn jeder Knochen wächst einmal zusammen. Auf Krücken und auf einem Bein läßt es sich leben. Weißt du noch, wie sie aus dem Krieg zurückkamen, die zusammengeschossenen Krüppel, die man vorher Helden nannte und jetzt Sozialfälle? Diese ausgebluteten, dem Tod von der Schippe gesprungenen Jungs, denen man damals Orden und Blumen auf die Brust legte und um die sich heute keiner mehr kümmert. Doch ja, man kümmert sie noch um sie. ›Na Opa, du Kriegskrüppel?‹ sagt die neue Generation und schlägt sie mit Fahrradketten zusammen. Damals, als sie zurückkehrten, bis zum Kotzen voll vom Krieg, war ich ein Kind, aber wie sie da auf ihren Krücken vor dem Lübecker Bahnhof standen, das vergeß ich nie. Und sie lachten, das war am ergreifendsten, sie lachten ohne Beine und ohne Arme und waren irgendwie auf rätselhafte Art glücklich, zu leben. Soll ich jetzt weinen, nur weil ich ein zertrümmertes linkes Bein habe?«
Er blickte hinüber zu den hohen Palmen auf dem Hang und dem Bambuswald und dem blühenden Gestrüpp. Eine geballte Masse gesunden Lebens.
»Dort hinauf muß ich«, sagte er und zeigte dem um ihn herumhüpfenden Albatros die Böschung. »Dort wächst Holz für Schiene und Krücke. Und ich habe ein Beil. Ein Beil! Damit kann man alles machen. Aber um dort hinaufzukommen, müßte ich fliegen können wie du, Albatros.«
Er winkte dem stillen Vogel zu und schätzte die Entfernung und die Höhe der Böschung.
Der Mond war näher … und trotzdem beschloß er, den Wald zu erobern.
Die ersten Versuche mißlangen kläglich.
Kaum bewegte er sich, warf ihn der Schmerz im Bein wieder um. Aber jetzt war es ein verräterischer Schmerz … Er zeigte ihm deutlich, wo das Bein gebrochen war. Eine Handbreit überm Knie, er konnte es deutlich tasten, und er erinnerte sich an die erste Stunde nach seiner Wiederkehr ins Leben, wo er meinte, den Bruch bereits schon einmal gefühlt zu haben. Jetzt war es ganz klar: Der abgeknickte Knochen stach durch den dicken Muskel. Eine Lanzenspitze, die bei jeder Bewegung ins tiefe Fleisch hackte.
»Das ist ein ganz verfluchter Bruch!« sagte Bäcker laut. »Eine kompliziertere Stelle konntest du dir wohl nicht aussuchen, Bein?« Er legte sich zurück, bettete den Kopf auf die Gummiinsel und legte ein Mulltuch aus dem Verbandskasten über seine Augen.
Die Sonne glitzerte im Meer, die funkelnde Scheibe des trägen Wassers blendete ihn und trieb Tränen unter den vom Salz geschwollenen Lidern hervor.
»Nummer vier –«, sagte Bäcker wie ein Buchhalter, der Zahlen addiert. »Man kann blind werden. Ein blinder, verdurstender Krüppel mit verbrannter Haut … Du bist tüchtig, Natur. Du denkst an alles, um sicherzugehen. Unter zivilisierten Menschen würde man den Bruch jetzt nageln oder eine Stahlplatte über den Bruch legen und den Knochen daran festschrauben. Das sind keine Wunder mehr, denn solche Wunder werden jetzt von Menschen gemacht. Die Götter haben sich zurückgezogen.« Er faltete die Hände über die Brust, aber er hatte nicht die Absicht zu beten. Er dachte nur, wenn man schon mit Gott spricht, weil hier nichts ist außer einem großen Vogel, einem selbst und eben Gott, sollte man so höflich sein und die Hände falten. Er ist's so gewöhnt, mag sein, daß er's auch gerne sieht. Warum soll man nicht höflich sein? »Ich aber bin jetzt allein«, sagte er laut. »Der einzige Mensch. Gott, wenn du das Wunder verlernt hast, laß mich ein kleines menschliches Wunder tun …«
Er war schon froh, daß das spitze Knochenende nicht irgendeine Arterie in seinem Schenkel aufgerissen hatte, aber das hieß nicht, daß es nicht noch passieren konnte, wenn er sich zuviel bewegte. Dann würde er von innen verbluten. Sein Bein würde anschwellen zu einem Ballon aus Blut, bis alles, was sein Herz herauspumpte, sich in seinem Schenkel gesammelt
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