Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater
seinen toten Albatros, schichtete von den Klippen mitgebrachte Steine auf das Grab und stand dann still vor dem kleinen Hügel. »Ohne dich wäre ich wahnsinnig geworden, Vogel –«, sagte er leise. »Daß ich die ersten Wochen überlebt habe, daß ich meinen verfluchten Knochen besiegt habe … deine Gegenwart hat es gemacht. Ich wollte mich nicht vor dir blamieren, vor einem Vogel … Und ausgerechnet ein Mensch muß dich umbringen –«
»Man sollte es nicht für möglich halten!« schrie Shirley vom Feuer herüber. Er briet einen großen Fisch, den Anne mit einem Stückchen Nylonschnur von der Gummiinsel und einem kleinen Köderfisch im seichten Lagunenwasser gefangen hatte. »Schade, daß kein Pfarrer hier ist, um den Scheißvogel einzusegnen. Singen Sie doch ein Requiem, Bäcker! Ich habe mich zwar nie um die Kirche gekümmert, aber ein Ave Maria bringe ich noch zustande. Los, stimmen wir es an! Im Chorus! Ave Maria –« Er lachte rauh, sang ein paar Takte und schob den Fisch vom Stecken. Die Haut war geplatzt, das weiße Fleisch quoll hervor. Es duftete herrlich. Ein schöner Fisch!
Bäcker kam zum Feuer zurück und blieb vor Shirley stehen.
»Sie kommen sich wohl sehr stark vor und sehr klug, was?« sagte er langsam. Shirley schielte aufmerksam zu ihm hoch. »Ein Floß, ein Segel, zwei Paddel von meiner Gummiinsel, und die Welt gehört Ihnen!«
»So ähnlich, Werner. In drei Wochen machen wir es den ersten Papuas nach.«
»Sie hirnloser Muskelprotz – und womit wollen Sie die Baumstämme zusammenfügen? Mit meinen Halbzoll-Nägeln? Die kitzeln doch nur die Rinde! Wir haben keine Stricke, und Lianen gibt es hier nicht. Wollen Sie die Stämme mit Spucke kleben oder festhalten?«
Shirley legte seinen Fisch auf die Knie und biß sich auf die Unterlippe. In seinem Freiheitsrausch hatte er das wirklich übersehen. Die gefällten Bäume nützten gar nichts, wenn man sie nicht zuammenbinden konnte. Die bastartigen Fasern der Palmen waren nicht stark genug, sie schabten sich zu schnell durch.
»Dann bauen wir eben einen großen Einbaum mit Ausleger!« sagte Shirley rauh. Diese Niederlage vor Bäcker mußte er erst verdauen. »Das dauert zwar länger, aber es ist auch sicherer. Wissen Sie, wie die Eingeborenen ihre Einbäume herstellen, Werner?«
»Ich habe es gesehen. Für ein Dreimannboot brauchen wir ein Vierteljahr. Mit einem stumpfen Beil, einer Zange, ein paar Schraubenziehern, einer Raspel … guten Appetit, Shirley.«
»Die Zeit läuft uns nicht weg, Werner – das ist das einzige Geschenk der Einsamkeit. Wir haben Zeit, soviel wir wollen. Wir suchen uns morgen den dicksten und stärksten Baum aus und fressen uns durch ihn durch. Machen Sie nicht schon vorher schlapp!«
»Ich werde noch stehen, wenn Sie schon auf allen vieren kriechen, Shirley.«
»Das möchte ich sehen!« Shirley lachte grob. »Ich bin in der Südsee aufgewachsen – Sie kennen das hier noch nicht genug, Bäcker. Lassen wir's darauf ankommen!«
In der Nacht ließ Shirley nach einem langen Blick Anne und Bäcker allein. Er ging in den Wald.
»Ihr traue ich alles zu«, sagte er und nickte zu Anne hinüber. »Ich suche mir ein Versteck, um ruhig schlafen zu können. Kommen Sie mir nicht nach – ich schieße sofort! Ich werde meine Umgebung so präparieren, daß auch das vorsichtigste Anschleichen ein Geräusch verursacht. Ich habe einen leichten Schlaf, Bäcker, das wissen Sie. Es hat gar keinen Sinn zu versuchen, mich zu überrumpeln.«
Er ging in den Wald, nahm Signalpistole, Speere, Bogen und Pfeile, Hammer, Zange, Raspel, Schraubenzieher und andere Werkzeuge mit und verschwand in der Dunkelheit.
»Ich wünschte, ein wildes Tier würde ihn zerreißen!« sagte Anne voll Haß.
»Hier gibt es keine wilden Tiere«, sagte Bäcker. »Nur drei Menschen. Aber das genügt.«
Er deckte das Feuer in seiner Glimmgrube ab, und als der Mond hinter den Wolken hervorschwamm, überfiel ihn eine gewaltige Sehnsucht nach Ruhe. Vier Monate war er allein gewesen, und jeder Abend war – wenn er sich erinnerte – eigentlich ein Fest gewesen. Er hatte gesungen, mit den Sternen, dem Wind und dem verhaßten Meer gesprochen und war dann zufrieden eingeschlafen. Ein Tag war wieder überlebt worden … das war ein Feiern wert. In all diesen Wochen hatte er nie das Gefühl gehabt: Endlich ist der Tag vorbei – nein, er hatte immer nur gedacht: Ich habe diesen Tag erobert. Ich bin stolz auf den Tag. Er war vollkommen in die Natur, die ihn
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