Wer stirbt Palmen ... 2: Der Sohn
nichts.
Am Sonntag – Tara hatte sich vorbereitet, ihre Arbeit wiederaufzunehmen, und drohte, Paul durch zwanzig Matrosen hinausprügeln zu lassen, wenn er sich widersetzte – ging Paul zu der schwimmenden Siedlung in der Lagune und fragte sich von Boot zu Boot, von Steg zu Steg durch. Man brachte ihn schließlich zu einem alten, verschrumpelten Männchen, einer lebenden Mumie mit Lederhaut, die in einem niedrigen Wohnboot hauste und vor sich hindämmerte. Er betrachtete Pauls Malaiendolch genau, spuckte hustend ins Wasser und fragte mit heller Greisenstimme: »Was willst du?«
»Ich will den Dritten Kopf der Großen Sechs sprechen. Er kennt mich.«
Die Mumie zeigte auf eine Sitzbank und erhob sich. »Warte!« Dann schlüpfte sie davon wie eine große Ratte.
Eine halbe Stunde später erschienen zwei kräftige Eingeborene, verbanden Paul die Augen, führten ihn weg; er mußte in ein Kanu steigen, wurde hin und her gefahren, man legte irgendwo an; er spürte Planken unter seinen Sohlen und stand dann wieder in einem abgedunkelten Raum auf einem großen Wohnboot. Vor ihm, nur ein Schattenriß, stand ein breiter Mann. Das einzige, was Paul deutlich erkennen konnte, war ein Dolch, der genau seinem eigenen glich.
»Ich weiß«, sagte der Mann, bevor Paul etwas erklären konnte, »was geschehen ist. Aber wir brauchen noch ein paar Jahre, um die Macht eines Dubonnet zu brechen. Willst du nach Viktoria-Eiland zurück?«
»Soll ich schwimmen?« fragte Paul entgeistert.
»Wir geben dir ein Katamaran, und Freunde bringen dich von Insel zu Insel. Mehr können wir nicht tun.«
»Einverstanden.« Paul nickte. »Wann kann ich lossegeln?«
»Morgen früh. In der Lagune wird ein Boot liegen mit einem gelben Stoffstreifen am Mast. Nimm es dir, es ist dein. Drei Meilen außerhalb des Hafens wartet ein Kanu auf dich.«
»Ich danke dir.« Paul wagte nicht, die Hand auszustrecken oder einen Schritt vorwärts zu tun. »Wenn ich dir einmal helfen kann …«
»Das wird nie möglich sein«, sagte der große, unkenntliche Mann im Halbdunkel. »Aber es ist uns viel wert zu wissen, wo ein Freund lebt.«
Als Paul zurückkam, hatte Tara ihre aufreizende Dirnenkleidung angezogen; die Bluse, die sich so schnell mit einem Handgriff öffnen ließ, den Rock, der bis zu den Hüften geschlitzt war. Sie war geschminkt und roch penetrant nach Rosenöl.
»Morgen früh –«, sagte Paul und setzte sich.
»Was ist morgen früh?« fragte Tara mißtrauisch.
»Ich habe ein Katamaran und Freunde, die mich weiterreichen. Hier drehen sie mir die Luft zum Atmen ab … ich gehe dorthin zurück, wo die Welt am schönsten ist.«
»Auf deine einsame Insel?«
»Ja. Pack deine Sachen, Tara.«
»Was soll ich?« Sie stellte sich vor ihm auf, ihre Brüste quollen wieder durch den Blusenschlitz.
»Du kommst mit mir, Tara.«
»Etwas Verrückteres fällt dir wohl nicht ein?«
»Ich liebe dich, Tara.«
»Ein Leben im Bett ist etwas anderes als ein Leben auf einer Toteninsel. Dein Vater und deine Mutter werden mich von Viktoria-Eiland wegprügeln und deinen blöden Kopf so lange unter Wasser halten, bis er wieder vernünftig denkt. Was soll ich auf einer Insel? Felder hacken, Gerippe aufschichten, Kinder kriegen, vor Einsamkeit Sonne, Mond und Sterne anheulen?«
»Meine Eltern werden dich akzeptieren«, sagte Paul. »Wir werden glücklich sein.«
»Glaubst du? O du prächtig gewachsener Engel mit dem Kinderhirn!« Tara lachte, aber es war ein verzweifeltes Lachen. Ich muß ihn jetzt abstoßen, dachte sie. Ich muß ihm weh tun. Er muß durch diese kleine Hölle hindurch, um ein ganzer Mann zu werden. Mein Gott, ja, ich liebe ihn auch, aber was er noch nicht begreift: Wenn wir zusammenbleiben, werden wir uns eines Tages gegenseitig zerfleischen. Ich muß ihn wegjagen wie einen Hund, sonst begreift er das nie.
»Geh hinaus!« sagte sie grob.
»Komm mit, Tara!«
»Ich habe drei gute Zahler bestellt. Sie kommen in zehn Minuten.«
»Ich werde sie zu Krüppeln schlagen!« schrie Paul.
»Versuch es!« Sie griff plötzlich nach hinten, riß einen Stuhl herum, hob ihn hoch und schlug ihn Paul über den Kopf. Der Stuhl zerplatzte förmlich, und über Pauls Stirn klaffte plötzlich ein Riß. Blut rann sofort über sein Gesicht … er saß regungslos da, wischte es nicht ab, drückte nicht die Hand auf die Wunde, sondern starrte Tara aus seinen großen blauen Augen an.
Sie begann zu zittern. Liebe und Mitleid zerrissen sie, aber sie zwang sich, stehenzubleiben
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