Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
Teppichen ausgestattet. Hinter dem Haus gab es einen Garten mit Baumhütten, Blumen- und Gemüsebeeten, Hühnern und Obstbäumen. Den ganzen Sommer über ernteten wir Passionsfrüchte, Pfirsiche, Äpfel, Orangen, Zitronen und Pflaumen. Meine Geschwister und ich legten uns neben das Spargelbeet und aßen die zarten Keimlinge, sobald sie hoch genug waren. Wir kriegten zwar regelmäßig Ärger, was uns aber nicht davon abhielt. Manchmal saß ich mit Keksen und einem Glas Milch unter dem Pfefferbaum mit den tief hängenden Ästen und träumte von Marcel. Die meiste Zeit jedoch saß ich dort und schrie. Nur wenige Menschen wissen, dass ich die Urschrei-Therapie entwickelt habe, damit ich meiner Mutter nicht an die Gurgel ging. Ich bekam keinen Penny dafür. Jahre später nahm Artur Janov dieses Konzept in Kalifornien für sich in Anspruch und ermutigte die Menschen zu schreien, um auf diese Art Bezug zu ihrem ersten bewussten Erleben zu bekommen, was nach organisierter Religion die übelste Zeitverschwendung ist, die man sich vorstellen kann. Wenn das erste bewusste Erleben schon beschissen war, wieso sollte es dann beim zweiten Mal besser sein? Der Trick ist, alles gleich beim ersten Mal hinauszuschreien. Hätte ich das damals nicht geschafft, säße ich mittlerweile längst in der Klapsmühle.
Aber zurück zu Marcel. Er wollte mich nicht. Ebenso wenig wie irgendein anderer Junge. Wann immer ich ihn anlächelte, starrte er mich nur ausdruckslos an. Wenn ich ihm meine in Butterbrotpapier eingewickelten Pausenbrote schenkte, schlang er sie ohne ein Wort des Dankes hinunter. Und als ich ihm ein Lied vorsang, lachte er mich aus. Er und seine Freunde zwangen mich, ganz allein auf der Jungensbank unter einem blühenden Baum neben dem Baseballfeldrand zu sitzen, nur weil ich wie ein Junge hieß. Die Mädchen durften auf der anderen Seite sitzen. Die Nonnen mussten uns in diesem Alter noch nicht getrennt halten, das erledigten wir schon ganz allein. Das Ganze war nicht nur eine Zurückweisung in meiner Eigenschaft als Mädchen, sondern eine Ablehnung meiner Identität insgesamt – meines Namens.
»Du musst bei den Jungs sitzen, weil du einen Jungennamen hast.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich heiße wie ein Mädchen.«
Dunkle Wolken zogen sich über mir zusammen, als ich kerzengerade auf der Bank saß, versteinert von den Härten meines jungen Lebens. Alle wollten nur Vanessa, die eine Art Grace Kelly in Miniaturausgabe und der Inbegriff des süßen kleinen Mädchens war. Und ich konnte diesen Wunsch durchaus nachvollziehen, denn auch ich war völlig verzaubert von ihr und trug ihr die Schultasche, bis ich mir endlich ein eigenes Leben zugelegt hatte. Was mir anfangs nicht ganz so gut gelang, aber am Ende schaffte ich es doch. Dass niemand mich wollte, konnte ich nicht so ohne weiteres auf mir sitzen lassen. Ebenso wie die Tatsache, dass ich wie ein Alien aussah und mich auch so fühlte. Und dass ich nicht Vanessa war. Wer außer irgendwelchen anderen Losern würde sich unter diesen Umständen schon mit mir anfreunden? Und wie sollte ich jemals einen Ehemann abkriegen?
»Stock und Stein brechen mein Gebein«, rezitierte meine Mutter und blickte von ihrem Buch und ihrem Jüngsten auf, »doch Worte bringen keine Pein.« Diese Lüge wird Kindern regelmäßig aufgetischt, um sich künftige hohe Psychiaterrechnungen zu ersparen. In puncto Anpassung war ich eine absolute Null, dabei sehnte ich mich wie alle Kinder danach, so zu sein wie alle anderen, was mit dem Stigma eines Vornamens wie Peta nie im Leben passieren würde. Die Namen, die sie mir an den Kopf warfen, schlugen tiefere Wunden, als es Prügel jemals hätten tun können, und zwangen mich zu handeln. Als ich eines Tages wieder auf dieser Bank saß und das volle Ausmaß meiner gesellschaftlichen Ausgrenzung spürte, begann ich, mir allen Ernstes Gedanken über eine neue Identität zu machen. Mir war klar, dass ich niemals so hübsch, blond, hinreißend und gleichmütig wie Vanessa sein konnte. Also beschloss ich, stattdessen schlauer, witziger und tapferer zu sein. Und dann konnten sie mich alle mal gern haben. Und es funktionierte. Gab es am Ende etwa doch so etwas wie einen Gott? Mein neu gefundener Witz zeigte Wirkung. Auf einmal war ich nicht mehr ganz so unbeliebt, was meinen Kummer, hässlich zu sein und von Marcel nicht geliebt zu werden, automatisch ein wenig milderte und mich auch ein ganz klein wenig mit meinem ungewöhnlichen Vornamen versöhnte, der im
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