Wer Wind sät
dem Telefon. Diesmal meldete sich Ricky schon nach dem dritten Läuten.
»Mark!«, rief sie. »Endlich! Die Polizei war hier und hat nach dir gefragt. Ich mache mir Sorgen um dich! Wie geht es dir?«
Ihr Mitgefühl tat ihm gut.
»Was machst du denn im Tierheim?«
Eine Sekunde lang fragte er sich erschrocken, wie sie das wissen konnte, dann fiel ihm ein, dass sie ja die Nummer im Display sah. Er berichtete ihr, was am Nachmittag geschehen war und weshalb er sich versteckte. Zum Glück schien sie ihm wegen heute Morgen nicht mehr böse zu sein.
»Kannst du nicht herkommen?«, bat er sie schlieÃlich.
»Die Polizei steht vor dem Haus«, erinnerte Ricky ihn. »Wenn ich jetzt zum Tierheim runterfahre, werden die gleich Lunte riechen und hinterherkommen.« Sie stieà einen tiefen Seufzer aus. »AuÃerdem hab ich ein groÃes Problem. Als hätte ich nicht schon genug am Hals. Mein Vater liegt im Sterben, meine Mutter hat mich heute Nachmittag angerufen. Ich muss morgen zu ihnen nach Hamburg fahren, auch wenn mir das gar nicht passt.«
»Wie lange wirst du weg sein?«, fragte Mark. Der Gedanke beängstigte ihn.
»Nicht lange. Jetzt versuch ein bisschen zu schlafen. Morgen früh telefonieren wir wieder, okay?«
»Ja. Okay.«
»Gute Nacht, Mark. Bald ist alles wieder in Ordnung, vertrau mir.«
»Das tu ich«, versicherte er ihr. »Gute Nacht.«
Er saà noch eine Weile am Schreibtisch im dunklen Büro, nachdem sie aufgelegt hatte. Nika war weg, und wenn Jannis erst im Gefängnis saÃ, hatte er Ricky ganz für sich. Das war eine verlockende Aussicht. Er stand auf und humpelte den schmalen Flur entlang bis zu der Wohnung, in der Ricky und er die letzte Nacht verbracht hatten. Ihre erste gemeinsame Nacht. Mit einem Stöhnen lieà er sich auf die Matratze fallen und grub sein Gesicht in das Kissen, an dem noch ein Hauch von Rickys Parfüm haftete. Seine Gedanken wanderten vierundzwanzig Stunden zurück. Er vergaà die Polizei und seine Eltern und gab sich weitaus erfreulicheren Erinnerungen hin.
*
Nachdenklich betrachtete Pia das düstere Gesicht ihres Gegenübers im Halbdunkel von Bodensteins Büro, das nun auf unbestimmte Zeit ihres war. Dirk Eisenhut hatte Fakten geschildert, die schlüssig klangen. Aber war er heute Abend wirklich deshalb zu ihr gekommen? Wollte er wirklich nur mit Annika über die Ereignisse des Silvesterabends in seinem Haus sprechen, bevor es die Polizei tat? Was verschwieg er ihr? Konnte es sein, dass er tatsächlich nichts von den brisanten Unterlagen ahnte, die OâSullivan gegen ihn zusammengetragen hatte? Oder gab es diese Unterlagen vielleicht gar nicht?
Mehr denn je hatte Pia das unangenehme Gefühl, zu wenig Puzzlestücke für ein komplettes Bild zur Verfügung zu haben. Es gefiel ihr nicht, Informationen nur häppchenweise zu bekommen und dazu noch aufpassen zu müssen, was sie sagte. Irgendetwas an Eisenhuts Geschichte passte nicht, obwohl sie nicht den Eindruck hatte, dass er log. Seine Verzweiflung schien vollkommen echt, und doch war sein Erscheinen auf dem Kommissariat eigenartig. Ein Mann mit seinen Beziehungen und Mitteln hatte es nicht nötig, eine unbedeutende Kriminaloberkommissarin um Hilfe zu bitten.
Das, was er ihr erzählt hatte, ging sie nichts an, und es interessierte sie auch nicht wirklich. Aber allmählich bekam sie echte Angst um ihren Chef, der mit einer Frau unterwegs war, die wegen Doppelmordes und gefährlicher Körperverletzung gesucht wurde.
Plötzlich klingelte Eisenhuts Handy.
»Entschuldigung«, sagte er und ging dran. Er antwortete dem Anrufer nur wortkarg, richtete sich aber dabei auf, und Pia beobachtete, wie sich seine angespannte Miene verfinsterte.
»Schlechte Nachrichten?«, erkundigte sie sich, als er das Gespräch beendet und sein Handy wieder weggesteckt hatte.
»Nicht unbedingt.« Er lächelte zum ersten Mal, seit sie ihm heute Abend begegnet war. Ein sympathisches Lächeln, das ihren Zwiespalt verstärkte. Was interessierte sie eigentlich das Schicksal von Annika Sommerfeld? Aber wenn sie Eisenhut jetzt erzählte, dass Bodenstein mit ihr auf dem Weg nach Zürich war, würde dieser ihr das nie verzeihen. Eisenhut erlöste sie von ihrem Dilemma, denn er erhob sich von seinem Stuhl.
»Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben«, sagte er. Pia stand ebenfalls auf. Sie
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