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Wer Wind sät

Wer Wind sät

Titel: Wer Wind sät Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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den Fernseher aus und setzte sich betont langsam auf. Früher einmal hatte er Angst vor den cholerischen Ausrastern seines Vaters gehabt, aber das war lange her. Damals. Vorher . Als er noch ein ängstlicher, spießiger Streber gewesen war.
    Â»Also. Wieso schwänzt du dauernd die Schule? Wo treibst du dich in der Zeit herum?«
    Mark zuckte stumm die Schultern.
    Komisch eigentlich, dass man von seinen Eltern nur dann echte Aufmerksamkeit bekam, wenn man irgendetwas Verbotenes tat. Seine guten Noten früher hatten ihnen höchstens ein anerkennendes Kopfnicken entlockt, und in den vier Jahren im Internat hatte es einen, höchstens zwei Alibi-Anrufe pro Woche gegeben. Sogar während der schlimmen Zeit war es ihnen lästig gewesen, sich mit ihm beschäftigen zu müssen. Das hatte er gespürt. Jetzt spielten sie plötzlich die besorgten Mustereltern, wollten wissen, warum er dies, weshalb er das tat oder nicht. Dabei stellten sie diese blöden Fragen bloß pro forma, ihr wirkliches Interesse an ihm war gleich null. Sein Vater hatte nur seinen Job im Kopf, seine Mutter ihre komischen Antiquitäten, ihre Weiberclubs und das Einkaufen.
    Â»Ich warte auf eine gescheite Antwort«, sagte sein Vater mit einem drohenden Unterton. »Und zwar noch genau dreißig Sekunden. Dann kannst du was erleben.«
    Â»Ach ja? Was denn?« Mark hob den Kopf und blickte seinen Vater gelangweilt an. »Verprügelst du mich dann? Krieg ich Hausarrest? Oder schmeißt du meinen Computer aus dem Fenster?«
    Es war ihm total egal, was sein Vater sagte oder tat. Hätte er eine Alternative, würde er gar nicht mehr hier wohnen. Das Taschengeld brauchte er auch nicht, denn Ricky bezahlte ihn für seine Arbeit im Tierheim.
    Â»Du verbaust dir aus Trotz deine ganze Zukunft«, prophezeite sein Vater düster. »Du wirst sitzenbleiben, wenn du so weitermachst. Sie werden dich von der Schule verweisen. Und dann stehst du ohne Abitur da. Jetzt mag dir das gleichgültig sein, aber in ein paar Jahren wirst du sehen, was du dir kaputtgemacht hast.«
    Laber, laber, laber. Immer dasselbe Tonband. Wie das nervte!
    Â»Ich geh ja morgen wieder«, murmelte Mark. In seinem linken Auge begann es zu flimmern. So fing es immer an, wenn er Stress hatte. Erst das Flimmern und die grellen Lichtblitze, dann Zickzacklinien mit bunten Rändern, die sich ausbreiteten, bis er kaum noch etwas sehen konnte. Gleich würde sich sein Gesichtsfeld verengen, so, als ob er durch einen Tunnel ginge, und dann würde der Schmerz kommen, ein rasender Schmerz, der vom Hinterkopf nach vorne zog. Manchmal ging es schnell vorbei, hatte er Pech, dauerte es Tage. Mark kniff die Augen zusammen und massierte die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger.
    Â»Was ist mit dir?«, fragte sein Vater. »Mark? Was hast du?«
    Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und schüttelte sie unwillig ab. Jede Berührung verstärkte den Schmerz nur.
    Â»Nichts. Geh einfach weg«, sagte er und öffnete die Augen, aber selbst das Dämmerlicht war unerträglich hell.
    Schritte entfernten sich, die Tür klappte. Mark zog die Nachttischschublade auf und tastete nach den Tabletten. Wenn er sie rechtzeitig einnahm, halfen sie ganz gut. Ricky hatte ihm das Zeug gegeben. Er nahm zwei, spülte sie mit einem Schluck abgestandener Cola herunter und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Ricky. Wie ging es ihr jetzt wohl?
    *
    Die Nacht hatte sich wie ein Vorhang aus dunklem Samt über den Wald gesenkt, der halbe Mond leuchtete silbrig, und die ersten Sterne schimmerten am Firmament. Ludwig Hirtreiter wandte den Blick nach Osten, wo der orangefarbene Schein nie verlosch. Hier, im Vordertaunus, wurde es seit Jahren nicht mehr so stockdunkel, wie er es aus seiner Kindheit kannte. Die nahe gelegene Großstadt, das Industriegebiet der ehemaligen Hoechst AG und der gewaltige, nimmermüde Flughafen machten mit ihren hellen Lichtern die Nacht zum Tag. Hirtreiter seufzte und rutschte ein wenig hin und her, bis er auf der Bank des niedrigen Hochsitzes eine einigermaßen bequeme Position gefunden hatte. Er tastete nach dem Gewehr mit dem Zielfernrohr, das er in Griffweite gegen die halbhohe Wand gelehnt hatte. Zu seiner Rechten hatte sich Tell behaglich zusammengerollt, er spürte die Wärme des Hundes durch seinen Schlafsack. Links von ihm standen die Thermosflasche mit dem heißen Tee und eine Tupperbox mit belegten

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