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Wer Wind sät

Wer Wind sät

Titel: Wer Wind sät Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Wahrscheinlich kamen die Studenten mittlerweile mit eigenen Autos zur Vorlesung statt wie früher mit Fahrrädern oder Straßenbahn. Weiter vorne in der Paul-Ehrlich-Straße fand sie endlich einen Parkplatz und legte einen Sprint ein, um pünktlich zum Beginn der Obduktion im Sektionsraum zu sein. Henning konnte Verspätungen nicht leiden, und sie hatte keine Lust auf seine schlechte Laune. Sie drängte sich durch einen Pulk von Jurastudenten vor dem Gebäudeeingang, rief Professor Kronlages Sekretärin ein knappes »Morgen!« zu und hastete den holzgetäfelten Flur entlang zur Treppe, die in den Keller führte. Punkt acht Uhr betrat sie Sektionsraum 1 . Die Leiche von Rolf Grossmann lag nackt und gewaschen auf dem Metalltisch, Hennings Assistent Ronnie Böhme stand bereit und begrüßte Pia. Der intensive Verwesungsgeruch war nichts für empfindliche Gemüter, aber Pia wusste, dass sie sich in ein paar Minuten daran gewöhnt haben würde. Unzählige Stunden hatte sie während ihrer Ehe mit Henning in diesem Keller verbracht, hatte ganze Wochenenden und Nächte hindurch zugesehen, wie er Köpfe aufsägte, Organe untersuchte, unter Fingernägeln nach möglichen DNA -Spuren kratzte oder Knochenreste analysierte. Pia war oft nichts anderes übriggeblieben, als ins Institut zu kommen, wenn sie ihren Ehemann mal sehen wollte. Seine Arbeitseinstellung grenzte hart an Besessenheit, aber er hatte nicht umsonst schon mit achtundzwanzig Jahren promoviert, dazu sechs Fachbücher und an die zweihundert Aufsätze in Fachzeitschriften veröffentlicht. Pia kannte jedes einzelne Wort davon, denn ihr war die zweifelhafte Ehre zuteilgeworden, seine dahingekritzelten Notizen und die chaotischen Manuskripte – zuerst auf der Schreibmaschine, später am Computer – ins Reine zu schreiben, da diverse Sekretärinnen regelmäßig vor Hennings Sauklaue kapituliert hatten.
    Â»Ah, da bist du ja«, sagte er hinter ihr. »Guten Morgen.«
    Â»Guten Morgen.« Sie ging ein Stück zur Seite und ließ ihn vorbei. »Wo ist der Staatsanwalt?«
    Â»Der Herr Heidenfelder steckt angeblich im Stau fest. Behauptet er jedes Mal. Aber wir fangen an. Ich habe um zehn Uhr eine Vorlesung.«
    Er begann sofort mit der äußerlichen Leichenschau, sprach seine Feststellungen und Bemerkungen in ein Mikrophon, das er um den Hals trug. Pia wandte sich dem Leuchtkasten zu, an dem die Bilder hingen. Sie hatte schon genügend Röntgenbilder betrachtet, um auf den ersten Blick die Knochenbrüche zu erkennen. Rolf Grossmann hatte durch den Treppensturz Frakturen des Brustbeins, des rechten Schlüsselbeins, des rechten Becken- und Oberarmknochens sowie Brüche der 2 . bis 7 . Rippe linksseits erlitten. Das waren keine lebensbedrohlichen Verletzungen, genauso wenig wie die Platzwunde am Hinterkopf.
    Â»Ãœbrigens«, sagte Henning vom Tisch aus, »war er zum Zeitpunkt des Sturzes tatsächlich stark alkoholisiert. Das Labor hat einen Alkoholgehalt von 1 , 7 Promille festgestellt. Und es gibt noch etwas, das dich interessieren wird. An der Kleidung des Toten haben wir jede Menge Textilfaserspuren gefunden, die gerade im Labor analysiert werden. Mit etwas Glück gibt’s einen Fingerabdruck oder Hautschuppen aus dem abgerissenen Handschuh für eine DNA -Analyse.«
    Das klang tatsächlich vielversprechend.
    Henning und Ronnie Böhme waren ein perfekt eingespieltes Team, sie arbeiteten rasch und effizient. Dem strengen Protokoll folgend, löste Henning nun mit präzisen Schnitten des Skalpells die Kopfschwarte und klappte sie nach vorne weg. Mit der Oszillationssäge öffnete er die knöcherne Schädeldecke kreisförmig und hob sie ab.
    Was mochte in dem Moment, in dem Grossmann die Treppe hinuntergestürzt war, in ihm vorgegangen sein? Was dachte ein Mensch in den Sekunden, in denen er begreifen musste, dass ihm der Tod bevorstand? Wie fühlte es sich an, das Sterben? Ob er Schmerzen gehabt hatte?
    Eine Gänsehaut lief Pia über den Rücken.
    Verdammt, dachte sie, reiß dich zusammen! Was sind denn das für idiotische Gedanken? Normalerweise fiel es ihr nicht schwer, nüchterne Distanz zu dem, was sie in ihrem Job sah, zu bewahren. Wieso war das auf einmal anders?
    Â»Ha«, machte Henning plötzlich.
    Â»Was ist?«, erkundigte Pia sich.
    Â»Lange hätte er sowieso nicht mehr gelebt.« Henning wog das

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