Wer wir sind
nie gesehen hat.
»War das der Mann?«, hat Hitler das Subjekt gefragt.
»Der war es.«
Und Fritsch hat gebrüllt.
»Was war ich! Was soll ich gewesen sein! Mein Führer! Ich habe dieses Subjekt nie gesehen! Ich schwöre! Ich schwöre bei Gott und meinem Leben!«
Hitler hat abgewunken.
Er hat abgewunken.
Es ist Fritsch, als stürzte er in einen tiefen Schacht. Er fällt und fällt und fällt, und seine eigene Stimme klingt ihm hohl in den Ohren, noch während er schreit.
»Aufklärung. Ich fordere volle Aufklärung! Ein Ehrengericht. Ich verlange ein Ehrengericht! Ich werde darauf bestehen!«
»Es ist nicht zu fassen. Der Führer hat abgewunken. Er glaubt einem verurteilten Erpresser mehr als einem seiner höchsten Offiziere. Er hält die absurden Anschuldigungen eines Sträflings für glaubwürdiger als die beeidete Darstellung eines Frontkämpfers, der im Weltkrieg schwer verwundet wordenist. Es ist eine Beleidigung der Armee. Es ist eine Ohrfeige ins Gesicht des gesamten Offizierskorps.«
So sehen es die Offiziere, auch Hans Oster.
»Dies ist ein Angriff auf die Armee, nicht nur auf die Person des Oberbefehlshabers. Dahinter steckt die SS. Fritsch darf das nicht dulden. Ich schlage vor, wir marschieren in die Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße und setzen die SS-Führung ab. Oder Fritsch fordert Himmler zum Duell. Dann erhebt sich das Heer, und wir stürzen diesen Staat.«
Generaloberst Ludwig Beck ist entrüstet.
»Wie kommen Sie auf eine solche Idee. Meuterei und Revolution sind Worte, die es im Lexikon eines deutschen Soldaten nicht gibt!«
»Ich kann doch keinem Staatsstreich zustimmen.« Fritsch sitzt zusammengesunken in seinem Lehnstuhl. »Ich kann doch keinen Bürgerkrieg entfesseln, weil mir persönlich Unrecht getan wird.«
»Aber was wollen Sie dann tun?« Oster ist außer sich. »Wollen Sie dieses Unrecht etwa schweigend dulden?«
Fritsch winkt ab, müde.
»Wissen Sie was, Oster? Erschießen Sie mich. Sie täten mir einen Gefallen.«
Aber wenn Fritsch sein Leben schon dermaßen leid ist, könnte er sich dann nicht bemühen, es wenigstens auf sinnvolle Weise loszuwerden?
Ein gutes Jahr später wird während der Kämpfe in der Vorstadt Praga bei Warschau ein polnisches Maschinengewehr in einen Steinhaufen feuern. Einer der umherspritzenden Kieselsteine wird Fritschs Oberschenkel treffen und die Hauptschlagader verletzen. Als man ihm helfen will, wird er noch einmal abwinken, mit derselben müden Geste. Und dann wirdWerner von Fritsch verbluten. Er wird einen Tod sterben, der so heldenhaft und sinnerfüllt ist wie ein Haushaltsunfall. Aber noch ist es nicht so weit.
»Herr von Dohnanyi«, sagt Justizminister Gürtner zu seinem persönlichen Referenten. »Ich beauftrage Sie damit, ein Gutachten über den Fall Fritsch anzufertigen.«
In diesem Gutachten wird Hans von Dohnanyi eine ordnungsgemäße Voruntersuchung verlangen und auf ein Verfahren vor dem Reichskriegsgericht drängen. Fritschs Verteidigung wird der Nationalsozialist Rüdiger von der Goltz übernehmen, ein Vetter von Hans Dohnanyis Frau Christel, der vor 1933 unter anderem die Haupttäter in mehreren Fememord-Prozessen verteidigt hat. Der Prozess wird am 10. März beginnen. Wegen des Anschlusses Österreichs an das Reich wird er aber sofort wieder ausgesetzt. Österreich wird annektiert, der Prozess wird wieder aufgenommen, in seinem Verlauf wird Fritschs Unschuld klar erwiesen, das interessiert aber nun keinen mehr: Das Volk feiert Großdeutschland.
Und Hitler hat die Januarwirren und Fritschs Rücktritt genutzt, um das Kriegsministerium in das neugeschaffene Oberkommando der Wehrmacht einzugliedern und sich selbst zu dessen neuem Oberbefehlshaber zu machen. Vierzehn Generäle sind in den Ruhestand versetzt, sechsundvierzig Kommandostellen umbesetzt. Göring ist zwar nicht Kriegsminister, aber zum Trost Generalfeldmarschall der Wehrmacht, Keitel Chef des Oberkommandos der Wehrmacht mit Ministerrang, und neuer Oberbefehlshaber des Heeres ist Walther von Brauchitsch.
Brauchitschs Neffen werden beide den Krieg nicht überleben. Werner von Haeften wird in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli1944 als Adjutant Claus Schenk Graf von Stauffenbergs im Hof des Bendlerblocks erschossen, sein großer Bruder Hans Bernd knapp zwei Monate später von Roland Freisler zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet werden. 1938, zur Zeit der Fritsch-Krise, ist Hans Bernd von Haeften Kulturattaché an der deutschen Botschaft in
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