Wer wir sind
gefordert ist als sein Tod.
Und wenn es so ist, dann ist es eben so. Er steht nun schon so lange am Rand des Abgrunds. Es fehlt nur noch ein letzter kleiner Stoß. Lästig ist ihm allerdings der Umweg über den Volksgerichtshof. Diese Komplikation würde er sich am liebsten ersparen.
Andererseits, wenn er sich Freisler schon stellen muss, dann möchte er nicht nur angebrüllt werden. Er würde sich gern verteidigen können. Aber wie? Wie soll er sich darstellen? Was erwartet ihn überhaupt, rein juristisch gesehen?
»Es tut mir leid«, sagt Rudolf Dix zu Freya Moltke. »Leider kann ich die Sache nicht übernehmen. Ich gehöre nicht zu den Verteidigern, die bei den Prozessen am Volksgerichtshof zugelassen sind.«
Helmuth hat Freya zu dem Rechtsanwalt und Notar Dix geschickt, der bis zur Gleichschaltung des Deutschen Anwaltvereins dessen Präsident war und im Sommer 1943 Hans von Dohnanyi vertreten hat, bis Roeder ihm das unmöglich gemacht hat.
»Wer ist denn zugelassen?«, sagt Freya. »Können Sie mir nicht jemanden empfehlen?«
Dix überlegt.
»Nehmen Sie Hercher«, sagt er dann. »Hercher ist, nun ja, nicht mehr jung, aber jedenfalls nicht tückisch.«
Freya nickt.
»Wobei die Verhandlungen ja wohl ohnehin eine Farce sind«, sagt sie.
»Das ist so nicht ganz richtig«, sagt Dix. »Zunächst einmal verlaufen die Verhandlungen des VGH durchaus ordnungsgemäß. Formelle Anklage, Verhör, Plädoyer. Alles wie üblich.«
»Aber das Urteil steht schon vorher fest, nach allem, was man hört.«
»Nun ja. Nein. Auch Freisler bildet sich sein Urteil erst in der Verhandlung. Tatsächlich würde ich so weit gehen zu sagen, er bildet es sich ausschließlich aufgrund der Verhandlung. Die Grundlage seiner Urteilsfindung ist der menschliche Eindruck, den er persönlich vom Angeklagten gewinnt. Das ist das Ausschlaggebende, nicht die objektive Beweislage.«
»Aber hat man denn die Möglichkeit, diesen Eindruck positiv zu beeinflussen?«
»Der Angeklagte erhält Gelegenheit, sich zu den einzelnen Punkten zu äußern. Aber Freisler hat, nun, eben ein gewisses Temperament. Sobald er sich langweilt oder ärgert, schneidet er dem Angeklagten das Wort ab.«
»Er brüllt.«
»Das passiert. Immerhin bleibt dem Angeklagten das Schlusswort. Ihm bleibt die Möglichkeit, im Schlusswort noch einmal zusammenhängend zu sprechen.«
Freya nickt. Sie wirft einen Blick auf ihren Zettel.
»Mein Mann wüsste außerdem gern, ob man in der Verhandlung Beweisanträge stellen kann.«
Dix beugt sich vor.
»Davon muss ich unbedingt abraten«, sagt er mit plötzlicher Eindringlichkeit. »Bloß keine Jurisprudenz. Bloß nichtformaljuristisch argumentieren. Wie gesagt, es geht Freisler ja nicht um Beweise. Er ist so brillant, dass er ein Urteil auch ohne Beweise überzeugend begründen kann. Sie verstehen? Es geht ihm allein um den Eindruck, den er von der Persönlichkeit des Angeklagten gewinnt.«
»Aber wie erzielt man denn einen günstigen Eindruck?«
»Schwer zu sagen. Man darf keinesfalls intellektuell abgehoben wirken, da wittert er sofort den Feind. Andererseits muss man während der ganzen Verhandlung hellwach bleiben, sehr schnell und sozusagen wendig, sonst ist man verurteilt, bevor Freisler mit der Erfassung der persönlichen Daten fertig ist. Schicken Sie Ihrem Mann Coffeinpulver in die Verhandlung. Geben Sie das Pulver dem Verteidiger mit.«
Anwalt Dix geleitet Freya zur Tür.
»Ich wünsche Ihnen viel Mut und viel Glück«, sagt er. »Wissen Sie, im Grunde müssen Sie sich eine Verhandlung vor dem VGH vorstellen wie ein Theaterstück. Wie großes Drama. Und alles, was zur Spannungssteigerung dieses Dramas beitragen kann, nimmt Freisler begeistert auf. Im Guten wie im Bösen.«
Helmuth brütet nun den ganzen Tag über seiner Verteidigung. Es ist ja gar nicht die Sache Kiep, die ihn umbringt. Die Gedanken, die er sich dazu früher gemacht hat, waren alle ganz falsch. Was ihn umbringt, ist das Attentat. Der Anschlag hat Hitler am Leben gelassen und tötet stattdessen nun Helmuth Moltke.
Das Treffen mit Goerdeler tötet ihn, dieses alberne, gänzlich überflüssige Treffen, gegen das er sich mit Händen und Füßen gewehrt hat. Wie absurd und erzürnend, dass man sein Leben für eine Sache geben soll, die man nie gutgeheißen hat! Helmuth Moltke war gegen das Attentat. Er war gegen Goerdelersreaktionäre Pläne. Er war gegen das Treffen mit Goerdeler und Beck, das ihm jetzt zum Verhängnis wird: Und warum hat er auf der
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