Wer wir sind
der Afrikanischen Straße bei Poelchaus abzugeben. Abends kommt sie wieder, um Helmuths Antwortbrief abzuholen. Jeder Brief ist ein Abschiedsbrief. Jeden Tag kann ja der Prozess anberaumt werden, und dann wird Helmuth womöglich in die Prinz-Albrecht-Straße verlegt, wo Harald Poelchau ihn nicht besuchen kann.
Aber noch ist Helmuth in Tegel. Freya kann Päckchen für ihn packen, mit Brot und Schinken, frischem Obst, frischer Wäsche. Sie bringt auch Wachtmeister Gissel immer Zigarettenund Kreisauer Wurst mit. Wenn Gissel dann Freyas Wäschepaket zu Helmuth hinauf in die Zelle trägt, sitzt Freya in Gissels kleinem Wartezimmer im Gefängnis und begleitet ihn auf seinem Weg.
Jetzt – jetzt – jetzt ist er an der Zelle.
Jetzt öffnet er die Tür.
Jetzt weiß Helmuth, dass sein Pim im Haus ist.
Jetzt weiß er, dass sie ihm nah ist, nur durch ein paar Steine von ihm getrennt. Sie genießt diese Nähe, jeden einzelnen köstlichen Moment. Dann kommt Gissel zurück, und Freya nimmt die schmutzige Wäsche entgegen: die Wäsche, die Helmuth getragen hat. Bewahrt eines seiner Hemden noch die Wärme seines Körpers? Freya verlässt das Gefängnis. Helmuth nimmt sie mit sich. Sie tritt hinaus auf die Straße, sie steigt in die Straßenbahn, in die Stadtbahn. Inmitten der Menschenmassen ist sie mit ihm allein, tief und innig mit ihm verbunden.
Helmuth ist Tag und Nacht gefesselt. Tag und Nacht brennt in seiner Zelle das Licht. Auch die Angriffe muss er in dieser doppelten Wehrlosigkeit ertragen, gefesselt und eingeschlossen. Wachtmeister Claus würde ihm ja liebend gern die Fesseln abnehmen. Aber ihm fehlt der Mut. Immerhin ignoriert er es, wenn Helmuth seine langen, verbotenen Briefe schreibt. Helmuth versorgt Claus mit Schinken und Zigaretten, dann antwortet er auf Freyas letzten Brief.
Er schreibt mit einem Bleistiftstummel, den er in den gefesselten Händen hält. Morgen um diese Zeit ist er vielleicht schon tot. Dann wäre dies das letzte Mal, dass er sich mit seiner Frau unterhält, das letzte Mal, dass er ihre Stimme hört, die ihm aus den Zeilen des Briefs ganz gegenwärtig entgegenklingt.
Es ist doch ohnehin erstaunlich, dass er noch lebt. Otto Kiep ist tot, Fräulein von Thadden, Carl Langbehn, Ulrich von Hassell, Peter Yorck, Ulrich Schwerin von Schwanenberg, Fritzi Schulenburg, Maass, Leuschner und fünfzehn oder noch mehr KZ-Häftlinge, die während Helmuths Ravensbrücker Zeit in den Tod geschickt worden sind.
Los, wir machen einen Spaziergang ums Lager.
Helmuth entsinnt sich nur noch mühsam der Erregung, die ihn anfangs bei diesen Worten erfasst hat. Wer war er damals? Wer ist er heute? Manchmal muss er den Kopf schütteln, lachen. Wo ist nun der Großgrundbesitzer? Wo ist der Graf, der Angehörige des Oberkommandos der Wehrmacht, der promovierte Jurist, der Weltmann? Das Gefängnis stinkt nach Fäkalien, nach Kohl, nach ungewaschenen Leibern. Helmuth James Graf von Moltke muss sich herumschubsen lassen. Auf den Gängen klirrt es, brüllt es, jemand ruft, irgendwo wird geweint, ein Telefon klingelt, Stiefeltritte hallen, Türen öffnen sich kreischend und fallen schwer ins Schloss, und ständig fragt man sich, ob diese Geräusche Bezug zum eigenen Schicksal haben. Das eigene Schicksal ist aber nicht in die eigene Hand gegeben. Was hat Helmuth ins Gefängnis geführt? Eigene Entscheidungen? Er war sich im Klaren darüber, dass er mit seinen Planungen für die Welt nach Hitler sein Leben riskiert. Deswegen sitzt er aber gar nicht hier. Er ist im Gefängnis gelandet, weil er Kiep gewarnt hat. Das heißt, er wäre auch eingesperrt worden, wenn er sich all die Jahre angepasst und still verhalten hätte, wenn er alles, was er getan, gedacht, gesagt hat, unterlassen hätte, bis auf diese eine Warnung.
Es ist eine merkwürdige und beunruhigende Erkenntnis.
Denn erstens bedeutet das ja, dass nicht seine Handlungen ihn in diese Lage gebracht haben, sondern sein Wesen, das esihm unter keinen Umständen gestattet hätte, Kiep nicht zu warnen, selbst wenn er den befreienden Impuls hätte niedermorden können, über die Grundlagen der Staatslehre nachzudenken. Das wiederum könnte bedeuten, dass seine Arbeit, sein Leben, sein gesamtes Handeln zwar nicht unbedingt nutz- und sinnlos, aber doch nicht der Kern seiner Aufgabe auf Erden gewesen wären. Wenn die eine Handlung, die unbedingt aus dem Kern seines Wesens stammt, ihn nun umbringt, heißt das vielleicht, dass im Kern nicht mehr und nicht weniger von ihm
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