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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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fahren, nicht Trauer tragen, nicht Witwe spielen, kein Wort zu anderen Menschenüber die Hinrichtung oder die Haft sagen. Bitte schön, hier unterschreiben.
    Marion hat unterschrieben. Versuchsweise setzt sie einen Fuß vor den anderen. Ein erster Schritt. Der Boden wankt. Marion wird jetzt in den Dol gehen, zu ihrer Schwägerin Püzze Siemens. Wenn sie nur schon da wäre. Die Welt stürmt auf sie ein, sie brandet an ihr empor. Alles ist zu laut, zu grell, zu nah, zu wirklich. Marion zwinkert, sie blinzelt. Sie möchte sich die Ohren zuhalten. Sie ist ein nachtaktives Tier, dessen Höhle man an einem blendenden Wintertag aufgräbt. Marion irrt durch die Trümmer. Was bei ihrer Verhaftung noch gestanden hat, scheint inzwischen auch zerstört. Sie muss sich ein paarmal setzen, sie kann nicht weiter. Sie befindet sich im freien Fall: Auf welchen Höhen ist sie gewesen?
    Im Haus ihrer Schwägerin wird sie stürmisch begrüßt. Man nimmt sie in die Arme, man küsst sie, man überschüttet sie mit Fragen. Marion wehrt ab, mit Händen und Füßen.
    Sie nimmt ein Bad, sie zieht neue Kleider an. Aber es geht nicht. Es geht alles nicht. Was tut sie hier? Marion weint. Sie sind alle tot. Es ist nichts mehr da. Marion muss sich um Lebensmittelmarken kümmern, um eine neue Kleiderkarte. Sie muss sich um einen Totenschein für Peter kümmern. Peters Vermögen ist eingezogen worden. Marion hat kein Heim mehr, keinen Mann, kein Geld. Das ist also alles, was übriggeblieben ist. Das Banalste, Gemeinste, die niedrigsten Bedürfnisse. Marion muss in die Hortensienstraße gehen und nach ihrem Haus sehen.
    Sie geht in die Hortensienstraße. Die Tür ihres Hauses öffnet sich. Ein Mann tritt heraus, in SS-Uniform. Eine Frau folgt ihm. Sie trägt Marions Kleid.
    Am nächsten Tag flieht Marion. Sie leiht sich von ihrem Schwager dreihundert Mark und macht sich auf den Weg zumSchlesischen Bahnhof. Bia sitzt noch immer in Sippenhaft. Aber Peters Mutter und seine Schwestern Doro und Muto sind wieder nach Klein Oels zurückgekehrt, und auch Mariechen ist dort. Es ist ein mühsamer Weg zum Schlesischen Bahnhof. Marion ist krank. Sie hat Hepatitis. Marion wird Klein Oels aber erreichen. Und von dort wird sie nach Kauern fahren, mit einem Pferd und einem Wägelchen.
    Marion fährt über die abgeernteten Felder. Sie fährt Richtung Weigwitz, über die Brücken von Olbenbach und Ohle. Hinter Weigwitz kommt die Sandgrube. Dann sieht sie schon die beiden riesigen Friedenseichen von Kauern, gepflanzt nach der Völkerschlacht bei Leipzig. Wie wird man Marion in Kauern empfangen? Vielleicht wird man sie bespucken. Ihr Mann ist ja als Verräter gestorben. Vielleicht wird man Marion an die Gestapo verraten: Sie hätte gar nicht zurückkehren dürfen, sie hat das unterschrieben. Vorbei geht es am Gasthaus, an den Häuschen von Buchwald, Hunger, Fiebig und Weiß. Dann Maiwalds. Dann das Haus August Karbsteins, bis 1933 Kauerns Gemeindevorsteher. Auf dem Hof kommt ihr der Verwalter entgegen. Er ist Nationalsozialist. Der Stellmacher kommt ihr entgegen, ein Kommunist. Die Arbeiter kommen, die Polen. Sie begrüßen Marion, sie heißen sie willkommen. Die Polinnen umarmen Marion. Sie streicheln sie, wieder und wieder.
    »Der Graf war ein anständiger Mann«, sagt der Verwalter.
    »Das war er«, sagt der Stellmacher.
    Keiner hier nimmt es Marion übel, dass ihr Mann hingerichtet worden ist. Marion ist gelb. Das Weiße ihrer Augen ist gelb, das Innere ihrer Hände ist gelb, ihr ganzer Körper ist marmoriert. Sie kann kaum stehen. Der Verwalter fährt sie nach Klein Oels zurück. Man bringt sie zu Bett. Muto zieht Marions Bettdecke glatt.
    »Du musst ruhen«, sagt Muto zu Marion. »Du musst jetzt ruhen.«
    Auf der Anrichte im Esszimmer in Klein Oels steht eine Fotografie, aufgenommen am 28. Oktober 1943 im Hotel Kaiserhof auf der Hochzeitsfeier Dusi Üxküll-Gyllenbands mit Fredy von Saucken.
    Onkel Nux und seine Frau stehen inmitten der Gäste, Berthold und Mika, Claus und Nina Stauffenberg, die Hofackers, Peter Graf Yorck von Wartenburg mit Marion und auch Fredy von Sauckens Schwager, General Joachim von Kortzfleisch mit seiner Frau.
    Nux ist am 14. September in Plötzensee hingerichtet worden. Er hat mit seiner Einschätzung recht behalten: General Kortzfleisch war nicht für die Sache zu gewinnen. Noch am 20. Juli im Bendlerblock hat er sich eisern geweigert, die Walküre-Befehle für seinen Wehrkreis III zu unterzeichnen.
    Das hat schließlich Oberstleutnant

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