Wer wir sind
Die Tür öffnet sich leise. Wachtmeister Claus kommt herein. Er riskiert es jetzt manchmal, während der nächtlichen Angriffe eine der Zellentüren zu öffnen, hier oben im dritten Stock, wo auch die Zellen von Johannes Popitz, Ewald von Kleist-Schmenzin, Erwin Planck, Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg, Alfred Delp und Eugen Gerstenmaier liegen, und einem der Gefangenen für eine Weile die Fesseln abzunehmen. Alle wahre Güte ist eine Frucht des Muts.Helmuth liegt auf seinem Bett, zitternd und schwach nach dem furchtbaren Anfall. Er hat wieder Boden unter den Füßen. Er wagt kaum, sich zu regen. Dabei ist der Boden durchaus tragfähig.
Der Boden ist der Tod. Der Boden ist die Einsicht in seine eigene Kleinheit, in sein völliges Angewiesensein auf Gott. Der Boden ist die demütige Ergebung. Er muss seinem Tod zustimmen. Sobald er seinem Tod zustimmt, kann er auch seinem Leben zustimmen. Dem Tod zuzustimmen ist eine wahre Erlösung, nach den Qualen des Nein .
Und wofür sind diese Qualen gut? Wird etwas davon Frucht tragen, wird etwas von der Beglückung und der Verzweiflung dieser Wochen anderen nützlich sein? Oder dient alles immer nur dem einzelnen Leben?
Wehmut erfüllt ihn angesichts der Verschwendung. Er ist ein besserer Mensch geworden, als er je war. Er ist wirklicher. Er ist bescheidener, er ist fähiger, er beginnt gerade erst zu begreifen. Er fängt gerade erst an. Und nun also fort damit, weggefegt, auf den Kehricht? Aber wozu dann alles? Wozu die Mühen? Wozu das lebenslange dringende Bedürfnis, über sich selbst hinauszuwachsen, wenn es am Ende doch nur auf die Rieselfelder geht?
Freya hat Helmuths Brief an die Söhnchen erhalten. Nun durchstreift sie die Stadt, auf der Suche nach einem Fixativ. Künstlerbedarf wird natürlich nicht mehr hergestellt. Aber bis die Söhnchen den Brief ihres Vaters lesen können, werden noch einige Jahre vergehen. Und Helmuths Brief ist mit Bleistift geschrieben. Die Schrift wird verblassen. Freya muss ein Fixativ auftreiben.Alfred Delp und Eugen Gerstenmaier sind neuerdings sicher, dass sie überleben: Sie werden Freisler einfach davon überzeugen, dass sie und Helmuth Moltke nur ein ökumenischer Diskussionskreis waren.
Das teilen sie Helmuth während eines Hofgangs mit.
Aber das ist ganz falsch. Nicht an die Rettung muss man glauben, sondern an Gottes Willen, das Richtige und das Beste zu tun. Gethsemane ist gefordert: Wache und bete .
Eugen argumentiert dagegen mit 1. Johannes 5,14 und 15.
Und das ist die Freudigkeit, die wir haben zu ihm, dass, so wir etwas bitten nach seinem Willen, so hört er uns. Und so wir wissen, dass er uns hört, was wir bitten, so wissen wir, dass wir die Bitte haben, die wir von ihm gebeten haben.
Delp beruft sich auf Markus 11, 22–24.
Habt Glauben an Gott. Wahrlich, ich sage euch: Wer zu diesem Berge spräche: Hebe dich und wirf dich ins Meer! und zweifelte nicht in seinem Herzen, sondern glaubte, dass es geschehen würde, was er sagt, so wird’s ihm geschehen.
Dann gehen sie wieder ins Gefängnis zurück, Helmuth und die beiden wildgewordenen Theologen, wie er sie im Brief an Freya nennt. Auch Freya findet es erstaunlich: Ausgerechnet der Jesuitenpater und der protestantische Theologe glauben, das letzte Opfer könnte eventuell nicht gefordert werden? Und nun hat Brigitte Gerstenmaier allen Ernstes eine Kartenlegerin befragt, und die hat ihr versichert, der Termin würde bis nach Weihnachten verschoben.
Meint Brigitte denn allen Ernstes, dass Gott sich auf diese Weise in die Karten gucken lässt? Freya ist empört. Brigitte hat Helmuths Tod banalisiert. Sie hat ihn besudelt mit diesem jahrmarkthaften Unernst.
»Ich habe Brigitte gefragt, wie sie darauf kommt, dass Gott ausgerechnet unsere Männer erhalten wird, mitten in demallgemeinen großen Sterben«, sagt Freya zu Harald Poelchau. »Sie sagt, sie ginge von Gottes Gerechtigkeit aus. Eugen sei unschuldig, also werde er überleben. Aber wie furchtbar, so etwas zu behaupten! Damit sagt sie doch, dass all die Ermordeten ihren Tod verdient haben. Natürlich, so meint sie es nicht. Aber mir erscheint es wie Anmaßung, sich auf Gottes Gerechtigkeit zu berufen.«
»Gerechtigkeit«, sagt Harald Poelchau, »ist ein soziologisches Konzept.«
Immer wieder beginnt Helmuth von vorn: Er wird vertrauen. Er wird geführt. Freilich nicht notwendig dorthin, wohin er so gern ginge. Er schreibt an Delp und Gerstenmaier,
Wenn Gott uns spüren lassen will, dass er bei uns ist,
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