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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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immer noch. Man braucht aber viel Zeit dazu. Zeit, Ruhe, Harmonie. Man muss allein sein. Man darf die zarten Organe nicht verkümmern lassen, die es möglich machen, sich aus dieser Welt hinauszuahnen, über ihren Rand hinwegzulauschen.«
    Aber wie soll das Freya gelingen? Das Schlimme ist, dass sie so furchtbar tüchtig ist. Sie ist so entsetzlich eifrig, sie steht mit der ganzen Sohle ihrer Füße auf der Erde, und sie hat zu tun, sie hat alle Hände voll zu tun, es ist zum Verzweifeln mit ihr. Freya sieht nach Schwester in der Spielschule, sie holt Eier von Frau Rose. Sie wird alle Äpfel ernten lassen, sonst werden sie doch nur geklaut. Sehr früh am Morgen kommen die Söhnchen zu Freya ins Bett. Sie kuscheln, sie singen, sie lesen zusammen: das aufmerksame, liebe Casparchen mit seinen schon fast sieben Jahren, das stämmige Konrädchen, noch keine drei und der Liebling Frau Picks, die zu Mittag mit tiefer Befriedigung allen eine riesige Ente mit Apfelmus und Kartoffelbrei serviert. Freya isst mit den Kindern, danach besucht sie die Tanten im Schloss. Sie besucht Romai, die aber keine Zeit hat, weil sie schon wieder auf dem Weg nach Berlin ist, und so geht es immer weiter, wie soll Freya die große Aufgabe meistern, ihre Ehe zu vollenden, Helmuth über seinen Tod hinaus bei sich zu halten?
    Sie ist so verwurzelt in dieser Welt. Sie ist nicht geistig: Sie ist eine Pflanze, gemacht für diese Erde, auf der sie ihr vollständiges Genügen findet, ihr vollständiges Glück und Auskommen, solange sie nur ihren Mann an ihrer Seite spürt.
    Wenn Du sagst, Du seiest eine Pflanze, dann muss ich michin Demut vor der Pflanze neigen, die dann, wenn es drauf ankam, noch nie gefehlt oder geirrt hat.
    Das schreibt er ihr.
    Freya ist wieder in Berlin.
    Sie hat alles in Kreisau in Astas und Frau Picks Hände gelegt. Zum Glück ist sie wieder in Berlin, wo sie bei sich ist, bei ihm, allein mit ihm in der Stille des Berliner Lärms.
    Mein lieber lieber Jäm.
    Dein Pim bin ich.
    Und so viele, die Helmuth geliebt hat, sind ihm schon vorausgegangen. Helmuth denkt an Mami, Granny, Daddy, Carl Bernd. Er denkt, dass seine Mutter und seine Frau ihn sein ganzes Leben lang mit Liebe umgeben haben: Helmuth Moltke wird in seinem Leben keine kalte Stunde gekannt haben. Und hat er ihnen allen überhaupt einmal gesagt, wie sehr er sie liebt? Asta, Ulla, Davy, Romai, Marion, Muto, Schwester: Freya muss ihnen unbedingt sagen, was sie Helmuth Moltke bedeutet haben. Helmuth öffnet die Bibel, zu seinen täglichen Studien.
    Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, und sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blühet und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorret
    Zwischen dem 90. und dem 91. Psalm liegen fünf getrocknete Kreisauer Veilchen. Casparchen hat sie ihm nach Ravensbrück geschickt. Das liebe Söhnchen, mit seinem zarten zärtlichen Herzen, das Freya ihnen beiden errungen hat, ganz allein, unter solch großen Mühen und Sorgen und Schmerzen und ohne irgendeine Unterstützung von ihm. Und nun wirder sie zurücklassen. Er wird sie niemals mehr unterstützen, Freya nicht und auch nicht seine Söhnchen. Er wird den Söhnchen kein Vater gewesen sein. Er wird nichts sein.
    Er ist nichts: Er hat sich nicht gemacht, er kann sich nicht erhalten, er ist den Gewalten des Bösen ausgeliefert, man wird ihn töten, töten, töten, er wird sterben, sterben, sterben, er geht über das Seil und um ihn stürzen sie alle, nichts fängt sie und niemand, sie fallen, sie fallen, er fällt, er fällt schon, er ist ein blutiges Wimmern mit gefesselten Händen, das ins Nichts stürzt, in das große Nein, das ihn überwältigt, vertilgt, ein Nein zum Leben, Nein zum Tod, Nein zu allem, zum Sein und zum Nichtsein, ein Fluch und Entsetzen, ach wäre man doch schon tot. Wäre man nie geboren. Das Nein umfasst alles, die ganze Existenz, die in der Sinnlosigkeit verlischt, in der Leere des Alls, in den lichtlosen Pupillen des Bösen, in denen Nichts ist. Seine gefesselten Hände umklammern einen Bleistiftstummel. Er schreibt an seine Söhne. Er schreit laut aus den schwarzen Fluten, in denen er kämpfend versinkt.
    Meine lieben Söhnchen, die ich mit diesen Augen nie mehr sehen werde
    Der Riegel von Helmuths Zelle schiebt sich zurück.

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