Wer wir sind
Reichssicherheitshauptamt versagt ihm jeden Außenkontakt. Aber Kriminalkommissar Sonderegger gestattet es Maria heimlich, an der Pforte Pakete für ihn abzugeben. Maria kocht und bäckt für Dietrich. Sie bügelt seine Hemden. Sie strickt ihm Wollsocken, einen Schal. Sie sorgt für ihn, wie eine richtige Ehefrau. Sie sitzt unter den Ehefrauen und bessert wie die anderen die Wäsche ihres Mannes aus, Dietrichs Wäsche, die sie ihn niemals hat tragen sehen.
Freya erwacht jeden Morgen in Lichterfelde in der Wohnung der Trothas. Sie denkt an Helmuth. Dann beginnt sie den Tag, mit seinen unzähligen Gängen in Helmuths Auftrag. Sie schreibt an Helmuth, ununterbrochen. Die ersten Zeilen schreibt sie gleich nach dem Erwachen,
Mein Lieber, mein Liebster, mein Herzensjäm
Sie schreibt weiter im überfüllten Wartesaal des Bahnhofs Friedrichstraße. Es fahren mal wieder keine Züge. Sie schreibt ihm das, den Block auf den Knien, hinten im hintersten Eckchen, während sie wartet, dass es weitergeht. Dann kommt der Zug, und sie schreibt ihm im Zug, dass sie jetzt im Zug sitzt, allein mit ihm unter den vielen Menschen. Sie beendet den Brief in der Wohnung der Poelchaus, an Haralds schönem Schreibtisch. Dazwischen kommt Harald und bringt Helmuths Brief.
»Es geht ihm recht gut«, sagt Harald Poelchau. In seinen Augen ist ein Lächeln. »Seit es so kalt geworden ist, sitzt er immer auf seinem Tisch. Er sitzt auf einer Decke, und die andere hat er umgelegt.«
Freya muss ebenfalls lächeln, während doch die Tränen schon wieder laufen.
»Auf welcher Decke sitzt er?«
»Auf der braunen.«
»Und in die blau karierte wickelt er sich.«
»Ja. Und zwar so. Sehen Sie? So sitzt er da, wie ein Indianer vor dem Wigwam. Und er pfeift.«
»Was pfeift er denn?«
»Kirchenlieder.«
Harald Poelchau setzt sich zu Tisch, dann legt er sich auf das Sofa, um einen Moment zu ruhen. Freya liest Helmuths Brief.
Mein liebes Herz, guten Morgen. Die große Neuigkeit ist, dass ich den Pim gewaltig liebhabe.
Hat sie früher einmal geklagt, Helmuth ließe sie nicht in die innersten Räume seiner Seele ein? Nun stehen die Tore offen. Helmuth hält nichts mehr vor ihr zurück. Sie weiß, was er fühlt, sie weiß, was er denkt. Sie weiß es oft schon, bevor er es ihr schreibt. Sie schreibt eine Antwort auf seinen Brief unter den ihren, den Harald nachher nach Tegel mitnehmen wird. Dann fährt sie nach Lichterfelde zurück. Im Zug beginnt sie den nächsten Brief.
Mein Lieber, Liebster, Geliebter
Die Bahn fährt am Garten der Hortensienstraße 50 vorbei. Die Blätter fallen. Das Häuschen wird mit jedem Tag sichtbarer. Freya lässt den Stift sinken. Sie blickt zu dem Haus der Yorcks hin, das auftaucht und verschwindet. Dann senkt sie den Blick wieder auf ihren Schreibblock. Das Glück überkommt sie glühend heiß: Noch ist er da. Er lebt. Sie ist ihm ganz nahe, sie ist mit ihm allein. Nichts steht zwischen ihr und ihm, in der menschengefüllten Einsamkeit Berlins. Er wird dies hier lesen: diese Zeilen, die sie jetzt an ihn schreibt,
Deine lieben Augen können noch immer über meine Worte wandern, Deine lieben Augen.
Es überkommt sie glühend heiß, wie allein sie wird bleiben müssen, um ihn zu behalten.
In der Nacht erwacht sie, und das Glück überkommt sie erneut: Er ist da, flammend, und sie fühlt seine Gegenwart bis ins Innerste. Dann schläft sie wieder ein.
Am Morgen erwacht sie mit Kopfschmerzen. Ein Migräneanfall kündigt sich an.
Es ist aber auch nicht fair! Er hat sie oft genug damit gequält, dass er früh sterben würde, aber bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag wollte er bleiben. Das hat sie ihm abgerungen. Also noch sieben Jahre. Sie will diese sieben Jahre! Sie besteht darauf.
Aber geht es denn um Quantität? Geht es wirklich um ein paar Jahre mehr, vor der Ewigkeit?
Ja, ja, ja, ja, ja! Es geht um jede Minute, um jede Sekunde!
Sie beginnt einen weiteren Brief.
Mein liebes Herz, mein Liebster
Sie muss ihn noch nicht lassen. Sie darf ihn noch haben. Seine lieben Augen wandern noch immer über ihre Zeilen, seine lieben Augen. Jeder Tag ist ein gewonnener Tag. Jeder Tag, der hinter ihnen liegt, stärkt sie für das, was vor ihnen liegt.
Marion Gräfin Yorck von Wartenburg ist frei. Sie ist endlich aus der Haft entlassen worden. Sie steht auf der Straße, verloren inmitten der Trümmer. Es ist sehr kalt. Wohin nun? Sie darf nicht nach Schlesien fahren: Das hat Dr. Neuhaus angeordnet. Sie darf nicht zu Peters Familie
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