Wer wir sind
kann er das am Galgen in Plötzensee ebenso gut tun wie in Kreisau oder sonstwo.
Helmuth hat nach wie vor keine Angst vor dem Tod. Aber er hat eine geisttötende Angst vor dem Sterben. Immer wieder zwingt er sich, im Geist den Weg von Tegel bis in den Schuppen von Plötzensee zu gehen. Aber die Angst ist die eines Tiers. Ihr ist mit dem Geist nicht beizukommen. Und was wird man in zwanzig, dreißig Jahren, wenn wirklicher Friede herrscht, von solch einem Briefwechsel wie dem zwischen ihm und seiner Frau denken? Wird man ihn und Freya für hysterisch halten, für völlig übergeschnappt, wenn sie sich ans Hingerichtetwerden gewöhnen konnten?
Freya schreibt ihm,
Mein geliebtes Herz, ich glaube nicht, dass es mit Deinem Tod so schnell gehen wird. Nicht einmal, wenn bald wirklich Prozess ist. Es wird jetzt nicht mehr immer gleich nach dem Urteil vollstreckt. Es leben ja noch viele.
Edolf Reichwein ist inzwischen tot. Am 20. Oktober hat die Verhandlung stattgefunden, und gleich danach ist Edolf hingerichtet worden. Zusammen mit Frau Maaß tut Romai nun all die Gänge, die auch bei einem solchen Todesfall getan werden müssen. Verantwortlich für die Abwicklung vermögensrechtlicher Fragen und die Betreuung der Hinterbliebenen ist SS-Obergruppenführer Breithaupt.
Breithaupt steht stramm vor Frau Maaß, der Mutter von sechs Kindern, die ihren Mann nur um fünf Wochen überleben wird.
»Frau Maaß. Mein Beileid. Was sich tun lässt. Was in meiner Macht steht. Zählen Sie auf mich, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
Auch Amschy Brücklmeiers Mann ist hingerichtet worden, der Diplomat Eduard Brücklmeier, Hitlergegner der ersten Stunde und eng befreundet mit Ulrich Graf Schwerin von Schwanenfeld und Teddy Kessel.
Zu Amschy Brücklmeier sagt Breithaupt: »Betrachten Sie mich fortan als den Vater Ihrer Tochter.«
Charlotte von der Schulenburg hat lange um die gebotene Fassung gerungen. Nun kann sie nicht länger warten. Sie muss den Kindern sagen, dass der Vater tot ist. Ahnen sie es nicht vielleicht schon? Schuschu ist zehn, Christiane acht, Fritzi sechs, Charlotte vier, Angela zwei, und die kleine Adelheid hat gerade ihren ersten Geburtstag gefeiert. Charlotte ist mit ihnen in den Park gegangen, an eine Stelle, wo sie sonst nie sind. Sie umstehen ihre Mutter schweigend, erwartungsvoll. Charlotte spricht die Worte.
»Euer Vater ist tot.«
Sie hört das Unverständnis der Kinder. Es ist, als lausche man dem Fall eines Steins, der aber immer weiter fällt.
»Dann erbe ich jetzt sein Messer«, sagt Fritzi schließlich. »Nicht wahr? Das Messer mit FS darauf.«
»Mama«, sagt Christiane. »Wieso ist Papa tot?«
»Er ist in Berlin hingerichtet worden.«
»Was heißt das, hingerichtet?«
»Es heißt, dass man ihn getötet hat.«
»Wie denn?«
»Man hat ihn aufgehängt.«
»Wie, aufgehängt?«
»An einem Seil.«
Die Kinder starren sie an. »Wo war denn das Seil?«
»Um seinen Hals.«
»Das ist ja überhaupt nicht wahr!« Schuschu fährt hoch. »Das ist nicht wahr, das ist alles gelogen. Ich sehe ihn doch. Da ist Papi doch. Da, hinter dem Baum.«
Alle fahren herum.
Fast kann Charlotte es glauben. Fast kann sie Fritzi sehen: seinen Umriss, der sich in der silbrigen Herbstluft auflöst.
Charlotte träumt. Fritzi reitet durch Deutschland. Er reitet auf einem weißen Schimmel, den seine Leute für ihn gefangen haben, wie etwas in einer Sage. Er reitet über die Ebene. Er reitet in Städte ein und in Dörfer, und wo er hinkommt, strömen ihm jubelnd die Menschen entgegen. Sie rufen seinen Namen. Sie streuen Blumen. Der Held kommt über die Ebene.
In der Nacht friert es. Am Morgen kratzt Fritzi eine Kuhle in die harte Erde. Er streut Gänseblümchen darüber, Buchszweiglein, gelbe Blätter.
»Kind? Was tust du?« Charlotte ahnt es schon.
»Ich schmücke Papis Grab.«
Schuschu spricht nicht.Charlotte träumt.
Ein berittener Bote ist gekommen. Ein starkes Leuchten geht von ihm aus. Seine Züge sind im Glanz dieses Lichts nicht zu erkennen. Er zieht Charlotte zu sich aufs Pferd. In allen Siedlungen, die sie passieren, klingt ihnen das Hosianna entgegen, die Lobrufe auf die Toten. Dann erhebt sich das Pferd in die Luft. Unter ihnen Ruinen, Ruinen, zertrümmerte Paläste, eingestürzte Kuppeln, geborstene Säulen. Und über allem Asche, staubfein, die in weißgrauen Fahnen aufweht und im Winde strudelt. Hier liegen sie. Hier liegen sie alle.
Der Prozess ist verschoben. Vor dem 13. November ist mit einer
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