Wer wir sind
einem Ästchen als Mast, einem Blatt als Segel? Vielleicht nach Feenland. In ein Fantasien, wo die Bäume blau sind und die Wiesen rot, wo im Winter die Amseln singen und die Liebe ewig währt oder doch solange man schläft und träumt, und wenn man erwacht, liegt man unter einem kahlen Baum, tausend Jahre sind vergangen, und alle, die man geliebt hat, sind lange tot. Und hat Elfriede wirklich einen Moment lang geschlafen?
Es scheint so. Den größten Teil von Günthers Geschichte hat sie jedenfalls verpasst.
»Da lag er, der Indianer, am sumpfigen Ufer des Rio Paraná. Lange Zeit sagte keiner von uns ein Wort. Schließlich richtete sich Pedro auf. Vamos muchachos , sagte er. Reiten wir zurück zur Estancia . Ich packte meinen Postsack und schwang mich auf mein Pferd. Da rief uns Pedro noch einmal zurück. Muchachos?, sagte er. Und vergesst nicht. Kein Wort zum Patrón. Dieser Indianer da, der ist für gar nichts gestorben. Claro? Für überhaupt nichts. «
Günther verstummt. Die Geschichte ist für diesmal zu Ende. Sie schweigen. Das Schilf am Seeufer rauscht und flüstert. Marta richtet sich auf.
»Günther«, sagt sie. »Bitte, ich muss dich das jetzt fragen. Wieso ist denn dieser Indianer ertrunken? Letztes Mal hast du noch behauptet, er wäre erschossen worden. Letztes Mal hast du behauptet, ihr hättet später die Mörder gefunden.«
Libs lacht. »Da darfst du dich nicht verwirren lassen, Marta. Günther und sein toter Indianer. Von dem gibt es sehr viele Geschichten. Den hat er doch immer dabei. Letztes Mal hieß es sogar, er triebe hier, in unserer Lanke.« Libertas fährt hoch, deutet zum Seeufer. Sie stammelt, mit zitternd ausgestrecktem Arm. »Da! Seht doch! Sein Auge! Seht ihr nicht sein Auge im Wasser blinken? Da treibt er! Da! Der tote Indianer!«
Alle lachen, außer Marta. Alle sehen Libs an, auch Harro.
»Aber welche Geschichte ist denn nun die wahre?«, sagt Marta zu Günther. »Welche ist erfunden, und welche ist wirklich passiert?«
»Tja«, sagt Günther. »Was weiß denn ich? Ich glaube fast, sie sind alle erfunden. Ich glaube, sogar die, die wirklich passiert ist, ist nur erfunden. Jedenfalls, sobald ich sie erzähle.«
»Es ist furchtbar schwer, etwas zu erzählen, was wirklich passiert ist«, sagt Libertas. »Ich merke das gerade. Da sitze ich nun seit Monaten an dieser Geschichte über meine Fahrt auf dem Kohlenfrachter von Hamburg nach Jalta. Und ich habe auch schon 147 Seiten, die zähle ich immer nach, ob es nicht von allein mehr werden. Ich muss es fertig machen. Ledig-Rowohlt will es drucken. Aber es ist so langweilig. Es ist unwahrscheinlich langweilig, aufzuschreiben, was wirklich passiert ist.«
»Sei doch du still«, zischt Marta sie an. »Ich wollte gar nicht wissen, was du langweilig findest. Ich wollte nicht wissen, ob du schreiben kannst oder nicht.«
»Die eigentliche Frage«, sagt Harro, »ist doch, ob dieser Pedro im Recht war.«
Alle verstummen. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf Harro, wie immer, wenn Harro spricht. Wie immer, auch wenn Harro nicht spricht. Auch wenn er nur zuhört, die eindringlichen Augen auf den Redner geheftet, bereit für jedeAnregung, hungrig auf jeden Reiz. Elfriede weiß, dass ihn nach der Machtübernahme SA-Schläger abgeholt haben.
Sie haben ihn in eines der wilden KZs geschleppt, und Harro musste Spießruten laufen. Dreimal trieb man ihn durch eine Gasse von Männern, die von beiden Seiten auf ihn einpeitschten. Angeblich bestand Harro selbst auf einem vierten, freiwilligen Durchgang. Danach salutierte er.
Melde gehorsamst, Befehl ausgeführt plus Ehrenrunde!
Woraufhin ihm die SA-Schläger lärmend die Mitgliedschaft in den eigenen Reihen angetragen haben sollen,
Du bist doch in Wirklichkeit einer von uns!
Und ist es ein Kompliment, solcherart vom Opfer zum Täter befördert zu werden? Es war im Übrigen nicht Harro selbst, der Elfriede diese Geschichte erzählt hat. Er hat sie aber auch nie dementiert. Elfriede weiß nicht recht, ob sie die Sache glaubt. Sicher, es ist eine verlockende Vorstellung, dass man im äußersten Fall seine Mörder mit solcherlei Mätzchen entwaffnen könnte. Dass man sich möglicherweise retten könnte, indem man mehr Schmerzen auf sich nimmt, als einem zugedacht waren. Aber was, wenn man sich hinterher winselnd auf dem Boden krümmen müsste, anstatt Haltung zu zeigen? Schließlich könnte man das Ausmaß der freiwillig übernommenen Qualen ja nicht bestimmen. Man kann nicht vorhersehen, wie viel
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