Wer zuerst kommt, küsst zuerst
sein alter Herr. Einmal, als Kendra noch ein Baby war, hatte sie nicht aufgehört zu schreien. Er hatte einen Nachmittag lang auf sie aufgepasst, und das schrille Geräusch war nicht abgerissen. Er hätte alles getan, damit sie endlich still wäre. Er war kurz davor gewesen, sie zu schütteln. Stattdessen hatte er draußen gewartet, bis seine Mutter zurückgekommen war. Sie hatte Kendra auf eine Weise beruhigt, wie er es nie geschafft hätte.
Er hatte gespürt, was er seiner Tochter antun könnte. Wie er sie verletzen könnte. Er wusste, woher er kam, und dass es für sie beide besser war, wenn er sich von ihr fernhielt.
Bis weit nach Mitternacht blieb er in seinem Büro. Dann ging er leise nach oben.
Im Schlafzimmer war es dunkel. Er öffnete die Tür und sahLexi auf ihrer Seite des Bettes liegen. Falls sie nicht schlief, beachtete sie ihn jedenfalls nicht. Er ging weiter den Flur hinunter.
Kendras Tür war geschlossen. Er öffnete sie, ohne anzuklopfen.
Seine Tochter lag zusammengerollt in der Mitte des Bettes. Am Tage war sie gerissen und angriffslustig und fast schon erwachsen, aber im Schlaf wirkte sie klein und zerbrechlich. C.C. hatte sich an sie geschmiegt. Beide schliefen.
Er musterte Kendra und fragte sich, ob sie irgendwas von ihm hatte. Diese Hoffnung zu hegen war hilfreicher als das, was sein Vater ihm gegeben hatte. Er zog die Decke hoch, strich sie glatt und ging.
Diese Nacht würde er Wache halten. Sowohl Kendra als auch Lexi würden ihm sagen, dass sie ihn nicht brauchten, und vielleicht stimmte das sogar. Aber er würde wach bleiben, nur für alle Fälle.
„Sie müssen Witze machen“, moserte Kendra auf dem Weg in die Küche. „Haben Sie das aus Die gute Hausfrau ?“
Lexi ignorierte den Sarkasmus und legte zwei Scheiben Toastbrot auf einen Teller, den sie dem Mädchen vorsetzte.
„Wir haben kein Müsli“, sagte sie. „Und da ich nicht wusste, wie du deine Eier magst, musst du jetzt hiermit vorlieb nehmen.“
„Ich frühstücke nie“, informierte Kendra sie. „Das sind nur überflüssige Kalorien.“
„Wer morgens nichts isst, hat bloß schlechte Laune, was du ja gerade hervorragend demonstrierst. Je eher du was isst, umso schneller kannst du gehen.“
Kendra schimpfte vor sich hin, bevor sie ihren Rucksack mit einem dumpfen Knall auf den Boden fallen ließ. Sie nahm den Teller, schnappte sich eine Scheibe Toast und aß.
„Milch?“, fragte Lexi und achtete sorgfältig darauf, sich denTriumph über ihren Etappensieg nicht anmerken zu lassen.
„Kaffee.“
Tranken Teenager Kaffee? Zu Lexis Teeniezeiten jedenfalls nicht. Trotzdem schenkte sie eine Tasse ein und reichte sie Kendra, die einen Schluck nahm.
„Wie kommst du zur Schule?“, erkundigte sie sich.
„Bus.“
„Kommt dein Bus hierher?“
„Es ist ein anderer Bus, aber ja, er fährt durch dieses Viertel. Auch reiche Kinder brauchen einen Abschluss.“
„Du wohnst in demselben Schulbezirk wie dein Vater?“
Kendra hob die Augenbrauen. „In demselben Highschool-Bezirk. Unsere Wohnung ist nur ungefähr drei Meilen von hier entfernt. Hat er Ihnen das auch nicht erzählt?“
„Anscheinend nicht.“
Kendras Zuhause war also zu Fuß erreichen, und trotzdem verbrachte er keine Zeit mit ihr?
Kendra sah auf die Wanduhr und kreischte. „Ich verpasse noch den Bus. Bis dann.“
Sie stellte den Teller ab, schnappte sich den Rucksack und rannte zur Haustür. Lexi goss sich eine Tasse Kaffee ein und fragte sich, wie sie das alles in Ordnung bringen sollte. Es war zwar nicht ihr Problem, aber trotzdem konnte sie nicht einfach ignorieren, was hier geschah. Kendra und Cruz brauchten einander – sie wussten es nur noch nicht.
An diesem Nachmittag kam Cruz um kurz nach zwei in Lexis Büro. Sie redete sich ein, dass sie sich nicht freute, ihn zu sehen, obwohl ihre Hormone den schon bekannten Tanz der Erregung vollführten.
Alles nur eine Sache der Chemie, dachte sie, während sie aufstand und um ihren Schreibtisch ging. Irgendwas in seinen Pheromonen oder in ihrem Nervensystem erzeugte ein beinaheunkontrollierbares Verlangen, das jedes Mal in ihr anschwoll, wenn sie in seiner Nähe war.
Er sah gut aus, als er das Zimmer durchquerte. Groß und entschlossen in seinem maßgeschneiderten Anzug.
Ob er gekommen war, um sich für ihren Streit am Vorabend zu entschuldigen? Vielleicht hatte er begriffen, wie wichtig es war, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen. Aber das bezweifelte sie eher. Cruz war fest entschlossen,
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