Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Erkenntnis wuchs zugleich meine Anhänglichkeit an sie und wurde immer fester und fester.
Von Charakter war sie schüchtern und schwach. Wenn man die klaren, ruhigen Züge ihres Gesichtes ansah, hätte man auf den ersten Blick nicht glauben können, daß irgendwelche Unruhe ihr reines Herz aufrege. Es war undenkbar, daß sie imstande sei, gegen jemand etwas anderes als Liebe zu empfinden; das Mitleid gewann in ihrem Herzen immer die Oberhand, sogar über den Widerwillen. Dabei aber war sie doch nur einigen wenigen Freunden wirklich zugetan und lebte in völliger Abgeschlossenheit. Sie war von Natur leidenschaftlich und gefühlvoll; gleichzeitig aber fürchtete sie sich gewissermaßen selbst vor ihren eigenen Gefühlen, wie wenn sie jeden Augenblick vor ihrem Herzen auf der Hut wäre und ihm nicht erlaubte, sich zu vergessen, auch nicht in schönen Träumereien. Mitunter bemerkte ich auf einmal mitten in Zeiten frohester Stimmung Tränen in ihren Augen, als ob eine plötzliche bedrückende Erinnerung an etwas, wovon ihr Gewissen qualvoll gepeinigt wurde, in ihrer Seele auftauchte, als ob etwas ihrem Glücke auflauerte und es in feindlicher Absicht störte. Und je glücklicher sie zu sein schien, je ruhiger und heiterer ein Augenblick ihres Lebens anscheinend war, um so näher stand der Gram, mit um so größerer Wahrscheinlichkeit waren plötzlich Tränen und Traurigkeit zu erwarten; es war gerade, als ob sie einen Anfall bekäme. Ich erinnere mich nicht eines einzigen ruhigen Monats im Laufe der ganzen acht Jahre. Ihr Mann liebte sie anscheinend sehr, und sie vergötterte ihn geradezu. Aber man hatte gleich beim ersten Blick den Eindruck, als ob etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stehe. In dem Schicksale dieser Frau steckte irgendein Geheimnis; wenigstens vermutete ich das vom ersten Augenblicke an.
Alexandra Michailownas Mann machte auf mich von vornherein den Eindruck eines finsteren Menschen. Dieser Eindruck entstand in meiner Kindheit und hat sich nachher nie wieder verwischt. Was sein Äußeres anlangt, so war er ein hochgewachsener, hagerer Mann und schien absichtlich seinen Blick hinter einer großen grünen Brille zu verbergen. Er war nicht mitteilsam, sondern von trockenem Wesen und fand, selbst wenn er mit seiner Frau allein war, anscheinend keinen Stoff zum Gespräche. Der Verkehr mit Menschen war ihm offenbar lästig. Mich beachtete er gar nicht, und wenn wir uns wie gewöhnlich abends zu dreien in Alexandra Michailownas Salon zum Tee zusammenfanden, so fühlte ich meinerseits mich in seiner Gegenwart unbehaglich. Verstohlen beobachtete ich Alexandra Michailowna und nahm zu meinem Bedauern wahr, daß sie jede ihrer Bewegungen vorher zu überlegen schien, daß sie blaß wurde, wenn sie ihren Mann besonders finster und mürrisch werden sah, oder plötzlich über das ganze Gesicht errötete, wenn sie aus irgendeinem Worte ihres Mannes einen versteckten Vorwurf herauszuhören glaubte. Ich hatte die Empfindung, daß sie sich in seiner Gegenwart bedrückt fühlte, und doch konnte sie anscheinend auch nicht eine Minute ohne ihn leben. Mich überraschte die außerordentliche Aufmerksamkeit, die sie ihm erwies, wie sie auf jedes Wort von ihm, auf jede seiner Bewegungen achtete, als ob sie das dringende Verlangen hätte, ihm alles recht zu machen, und doch fühlte, daß ihr das nicht gelang. Sie flehte sozusagen um seinen Beifall: das leiseste Lächeln auf seinem Gesichte, ein halbes freundliches Wort aus seinem Munde – und sie war glücklich, gerade wie wenn dies die ersten Augenblicke einer noch schüchternen, unsicheren Liebe wären. Sie pflegte ihren Mann wie einen Schwerkranken. Er aber betrachtete sie, wie es mir vorkam, immer mit einer Art von Mitleid, das ihr peinlich war, und wenn er ihr nach Tische die Hand gedrückt und sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, so wurde sie auf einmal eine ganz andere. Ihre Bewegungen, ihre Redeweise wurden sogleich heiterer und freier. Aber eine gewisse Verstörtheit blieb nach jedem Beisammensein mit ihrem Manne noch längere Zeit bei ihr zurück. Sie begann sogleich, sich jedes Wort, das er gesagt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen, wie wenn sie alle seine Worte genau abwägen wollte. Nicht selten wandte sie sich an mich mit der Frage, ob sie auch richtig gehört und ob Pjotr Alexandrowitsch sich wirklich so ausgedrückt habe; es klang, als ob sie in seinen Worten einen anderen Sinn suche. Und erst nach etwa einer Stunde war sie wieder völlig guten
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