Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
der großen Tat vom 19. Februar, Herzens oppositionelle Zeitschrift (»Die Glocke«) nun verstummen mußte, so waren die russischen liberal-oppositionellen Menschen keineswegs derselben Ansicht. Als Turgenjeff ein paar Jahre später (1866–67) seinen Roman »Rauch« schrieb, da hatte er einerseits bereits eine ausgesprochene konservative »Fronde« zu schildern und anderseits radikale Kreise, in denen schon Lenker auftauchen konnten, die im Grunde einfach Anhänger des Systems der Leibeigenschaft waren, doch im Spiel mit revolutionärer Propaganda ihr Herz erleichterten. Man wollte bei uns nicht einsehen, daß – angesichts des Widerstandes, den der Kaiser von seiten der interessierten Klasse erfuhr, die auch nach dem 19. Februar 1861 den Kampf noch längst nicht aufgab – nun alle, die in unserer Gesellschaft uneigennützig dachten und wirklich die Freiheit liebten, sich einmütig um den Kaiser hätten scharen müssen, zur Mitwirkung an der großen aufbauenden Arbeit. Statt dessen wurde bei uns schon seit 1856 behauptet, nur dann sei eine
»... Sache dauerhaft,
Wenn Blut für sie vergossen wird.«
Allen Andersdenkenden, die sich zu solchen Theorien nicht bekehren ließen, wurde Mangel an bürgerlichem Mut vorgeworfen. Schon damals begann man uns eindringlich das Sterben zu lehren, zu einer Zeit, als man uns zu leben hätte lehren sollen – ehrlich, aufopfernd, standhaft zu leben. Und als Lebensgesetze prägte man uns schon seit dem Anfang der sechziger Jahre Sentenzen ein, wie z. B.: »Gut ist der Mensch dann, wenn er zur Erlangung von Angenehmem für sich, anderen Angenehmes zufügen muß; schlecht ist der Mensch dann, wenn er gezwungen ist, zur Erlangung von Angenehmem für sich, anderen Unangenehmes zuzufügen.« Eine so unzweideutige Ausschaltung der Menschenseele mit ihrer inneren sittlichen Tat begann also bei uns in einem Augenblick, als die aufbauenden Männer der Zeit, gleich J. Ssamarin, der Ansicht waren, gerade jetzt täte uns inneres Heldentum not, »Die Predigt des Materialismus in Rußland « erschien Ssamarin gerade vor der Tat der Bauernbefreiung ganz besonders unangebracht, wie er in einem seiner Artikel bemerkte, bezugnehmend auf die damalige Kritik, die in einem 1858 erschienenen Buch eine »Erniedrigung der Persönlichkeit« entdeckte, weil darin von dem Prinzip der Selbstlosigkeit als von der notwendigen Begleiterscheinung des Prinzips der persönlichen Selbständigkeit die Rede war. Ich erinnere mich auch noch, wie mir ein Mann von großem Verstande und viel Erfahrung, einer, der außerhalb aller Parteien stand – der verstorbene Professor Nikitenko – jene mir damals ganz unverständliche Wut gegen dieses Buch erklärte »So brauchen es jene Leute, deren Aufgabe es ist, alles ins Wanken zu bringen«. Die Richtigkeit dieser Bemerkung bestätigte mir später eine Gravüre – das Bild eines talentvollen Jünglings, der in den sechziger Jahren für die neueste Autorität in unserer Kritik galt: Hielt man das Blatt gegen das Licht, so konnte man unter dem Namenszug des Jünglings die Worte lesen: »Das Werk der Zerstörung ist getan, – das Werk des Aufbaues steht bevor und wird nicht nur eine Generation beschäftigen.«
Das also fand der Mensch bei uns vor, der aus Sibirien an Wrangel geschrieben hatte: »Mehr Glauben, mehr Einheit, und wenn noch Liebe hinzukommt, dann ist alles getan!«
Jene Treibereien der Linien kamen aber den Unzufriedenen der Herrenpartei sehr gelegen. Mit dem revolutionären Radikalismus ging der Konservatismus, wenn auch vom anderen Ende ausgehend, nun unmittelbar zusammen, dieser Konservatismus, den J. Ssamarin richtig durchschaute und als »genau so revolutionär« bezeichnete. Das französische Sprichwort »les extrêmes se touchent« fand bei uns die glänzendste Bestätigung. Das konnte ein jeder wahrnehmen, der zufällig jenen denkwürdigen »literarischen Abend« miterlebte, der im Frühjahr 1862, gleich vielen anderen Festlichkeiten, zur Feier des tausendjährigen Bestehens Rußlands veranstaltet wurde.
Anmerkung : O. Miller setzt die Vorgeschichte des erwähnten Ereignisses als noch erinnerlich oder bekannt voraus und begnügt sich daher mit einer kurzen Beleuchtung einiger Einzelheiten. Da nun diese seine Voraussetzung bei dem deutschen Leser von heute nicht zutrifft, die Aufzeichnungen anderer Zeitgenossen aber aus Zensurgründen manche »Triebfedern« kaum andeuten dürfen, wird hier zunächst eine Darstellung der Sachlage von I. Eckardt
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