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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Storm
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aufgestanden und sah wie abwesend aus dem Fenster in den traurigen Hof hinaus, nicht achtend, daß die Dohle wieder mit ihren schwarzen Flügeln gegen die Scheiben schlug. Aber ihr Krächzen nach neuem Futter war diesmal umsonst; ihr Herr setzte sich mir wieder gegenüber und sah mich lange an, als ob er mich bemitleide.
    »Armer Hans«, begann er dann aufs neue, »mein Bericht ist auch jetzt noch nicht am Ende, denn ich selbst bin noch immer übrig, und im Herbste jährt es sich zum dritten Mal, seit das geschah, was ich dir erzählt habe.
    – – Elsi war begraben; die Kirchhofserde bedeckte den furchtbaren Prozeß, den die Natur einmal an allem übt, das sie einst selbst hervorgebracht hatte. Wie mir zumute war? Von Laien war mir oft gesagt, daß sie einen starken Seelenschmerz an einer bestimmten Stelle ihres Körpers nachempfänden, und es ist ein Korn Wahrheit in diesen Worten; bei mir aber war es nur ein dumpfer Schreck, der sich eingenistet hatte, wo andere den Schmerz um ihre Toten zu empfinden meinten – und wenn du willst, so ist das noch heut mein körperliches Leiden. Ich sagte mir wohl, es sei jetzt Zeit, meine Praxis wieder aufzunehmen, die sonst mir selber vorbehaltenen Kranken wieder zu besuchen, zumal ich sah, daß mein junger Gehülfe es nur auf Kosten seiner Gesundheit fertigbrachte. Aber eine panische Furcht ergriff mich, wenn mir der Gedanke kam; ich scheute mich vor den Menschen, ich vermied sie und lebte wie ein Einsiedler eine Woche nach der andern, nur in meinem Haus und Garten, in letzterem selbst dann noch, als der Winter ihn mit Reif und Schnee beladen hatte. Und niemand störte mich in dieser Vereinsamung; mein junger Mann tat schweigend seine Pflicht, weit mehr als dies; meine alten Patienten mochten Mitleid mit mir haben und auch wohl denken, der Doktor stehe doch unsichtbar hinter seinem Assistenten; einzelnen der jungen Frauen oder Mädchen mochte auch vielleicht der hübsche Junge zusagen, wenigstens holte er sich gleich darauf aus diesen Kreisen eine Braut. Da aber mußte es geschehen, daß eine arge Seuche auf die Stadt und zumal auf unsere Jugend fiel; ein altes Übel, das aber nach manchen Jahren jetzt wieder auftauchte. Bei Beginn desselben war es, daß eines Morgens der Finger meines jungen Hausgenossen bescheiden an die Tür meines Zimmers pochte.
    »Ich möchte nicht stören, Herr Doktor«, sagte er bei seinem Eintritt; »aber Sie werden es auch selbst wünschen, daß wir in der Behandlung dieser unerwarteten Krankheit übereinstimmen.«
    Ich sah ihn überrascht an; ich wußte nichts von einer neuen Krankheit.
    »Verzeihen Sie«, sagte der junge Mann verlegen, indem er den nach allerlei mitspielenden Nerven konstruierten Namen nannte, »mir ist sie bisher in praxi noch unbekannt geblieben; sie ist plötzlich hier erschienen, und es sind schon Todesfälle nach kürzestem Verlaufe vorgekommen.«
    Ich wußte zwar von dieser Krankheit, aber auch mir war sie weder auf Universitäten noch später vorgekommen; sie war heillos in der Schnelligkeit, womit sie ihre Opfer packte. Ich raffte mich zusammen, wir verhandelten, wir lasen, zumal auch in den älteren Praktikern, die aus ihrer Zeit das Übel durch Erfahrung kannten und deren feine Beobachtung bei geringen Hülfsmitteln mir immer Achtung eingeflößt hatte. So kamen wir zu bestimmten Schlüssen und zur Feststellung eines einzuschlagenden Verfahrens. Als er sich entfernen wollte, sah ich ihm zum ersten Mal voll ins Antlitz. »Aber was ist Ihnen?« frug ich; »sind Sie krank?«
    Er schüttelte den Kopf: »Das ist nur von der Nachtunruhe in den letzten Tagen.«
    Ich streckte ihm erschrocken meine Hand entgegen: »So verzeihen Sie mir, daß ich über die Tote den Lebenden vergessen habe.«
    Aber ihm sprangen die Tränen aus den Augen. »Verzeihen?« stammelte er; »ich selber kann Ihre Tote nicht vergessen, wie sollten Sie es können!«
    Der brave Junge! Elsi war immer wie eine Schwester gegen ihn gewesen; und – wenn er meine Praxis erbte, ich hätte nicht viel dagegen! – Nein«, fügte er hinzu und streckte abwehrend seine Hand nach mir, »unterbrich mich nicht! Ich kann jetzt nicht davon reden. – –
    Als mein Assistent sich entfernt hatte, fühlte ich eine Unruhe in mir, die mich dies und jenes anzufassen trieb; so kam ich auch über die Schublade, in der meine medizinischen Zeitschriften lagen. Es war ein ganzer Haufen, und ich begann die einzelnen Hefte nach ihrer Ordnung zusammenzusuchen; vielleicht dachte ich gar

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