Werther, der Werwolf - Roman
nicht zurück und in ein Neues noch nicht vordringen kann? – –
Daß ich es nicht vergesse: Es ist nicht nur der Gesandte und die Beamtenseelen, die ihn umspielen, nicht bloß die Mannsbilder, die mich das Schaudern lehren, dieWeiber stehen ihnen mitnichten nach.
Ich lerne neulich auf dem Spaziergange ein Fräulein von B. kennen, ein nach außen liebenswürdiges Geschöpf, alles andere als häßlich, dem viele Fährnisse in dem steifen Leben widerfuhren.Wir gefallen uns im Gespräche, und da wir scheiden, ergibt es sich, daß sie denWunsch äußert, mich bei sich sehen zu wollen. Mir sagt ihre Freimütigkeit inmitten derWüste von Konventionen zu, daß ich zum nächst schicklichenAugenblick die Gelegenheit ergreife, zu ihr zu gehen. Sie ist nicht von hier, wie sie mir anvertraute, wohnt bei einerTante im Haus.
Die Physiognomie derAlten gefällt mir sogleich nicht, ich bezeige ihrAufmerksamkeit, unser Gespräch dreht sich um die Beschwernisse des täglichen Lebens. Unter vierAugen gesteht mir Fräulein von B., daß die liebeTante in ihremAlter Mangel an allem hätte, keinVermögen, keinen Geist und keine Stütze als die Reihe ihrerVorfahren, kein Ergetzen, als von ihrem Stockwerk herab über die bürgerlichen Häupter zu schauen. In ihrer Jugend soll sie schön gewesen sein und ihr Leben weggegaukelt, erst manchen armen Jungen gequält und in reiferen Jahren sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers geduckt haben, der das eherne Jahrhundert mit ihr zubrachte und starb, ohne das Geringste zu hinterlassen. Kurz, und hier schlägt Fräulein von B. das Bein so übereinander, daß ich ihre Strumpfbekleidung sehen muß, es habe sich gezeigt, daß es für dieTante keinenWeg zum Überleben gibt, als ärmerenVerwandten Unterschlupf zu gewähren, die Kost und Logis im Hause allerdings abarbeiten müßten. Sie gönnt mir dabei einen Blick, der treuherzig wirken soll, das Gegenteil ist, nämlich verschlagen. Sie, die freundliche Unschuld – mitnichten! verhökert ihr Fleisch in der Bürgerhöhle derTante!Während wir noch beisammensitzen, höre ich, wie unten angeläutet wird, da schon der nächste Tröster das bekannte Haus aufsucht.
Ich fühle in diesem Moment denWolf hervordrängen,Wilhelm, ein Leichtes wär’s gewesen, angesichts der Sittenlosen meinerseits Sittsamkeit fahren zu lassen, hinzustürzen und ihr mit wenigen Bissen den Garaus zu machen. Daß eine Solche meine Lust nicht weckt, brauche ich Dir nicht zu bekräftigen: wenn auch dasTierhafte, der Instinkt in mir wächst, will er mit dem niederen Menschentum nichts zu tun haben. Ich verließ die trostloseVerführerin und ihre verschlageneTante ohne einWort des Grußes.
Am 14. Juni.
Ich fürchte, mein Gesandter und ich halten es zusammen nicht lange mehr aus. Der Mann ist ganz und gar unerträglich. SeineArt zu arbeiten und Geschäfte zu treiben, ist so lächerlich, daß ich mich nicht enthalten kann, ihm zu widersprechen und eine Sache oft nach meinem Kopf und meinerArt zu machen, was ihm natürlich niemals recht ist. Darüber hat er sich neulich bei Hof beklagt, und der Minister gab mir einen zwar sanftenVerweis, aber einVerweis war es doch. Ich hätte gewiß meinen sofortigenAbschied erzwungen, wäre ich von dem hohen, edlen Sinn, der aus dem Brief des Ministers sprach, nicht besänftiget gewesen.
Wie er meine allzugroße Empfindlichkeit zurückweist, wie er meine überspannten Ideen vonWirksamkeit, von Einfluß auf andere, von martialischem Durchdringen in Geschäften als jugendlich guten Mut zwar ehrt, sie nicht auszurotten, nur zu mildern und dahin zu leiten sucht, wo sie ihre wahreWirkung tun können. Der Minister schreibt in dem Brief wahrhaftig vomTriebhaften meinerVorgehensweise und weiß nicht, wie sehr er ins Schwarze trifft. Ich erkenne, fürderhin muß ich mich besser verschleiern, soll nicht vor der Zeit alles auffliegen. Ich bin darum noch einmal einig mit mir worden, will meine Zeit abdienen, ohneAufsehen zu erregen. Die Ruhe der Seele, gerade einer so umgehetzten wie meiner, ist ein herrlich Ding! lieber Freund, wenn nur das Kleinod nicht eben so zerbrechlich wäre, als es schön und kostbar ist.
Am 17. Juni.
Ich muß Ihnen schreiben, liebe Lotte, aus der Stube einer geringen Bauernherberge, in die ich mich vor einem schwerenWetter geflüchtet habe.Wie ich hereintrat, überfiel mich, inmitten dieser ländlichenAtmosphäre, IhrAndenken, o Lotte! so heilig, so warm. Guter Gott! Der erste glücklicheAugenblick seit langem.
Wenn Sie
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