Werther, der Werwolf - Roman
Schwellenstein unsres Hauses aus derVerankerung riß, einen Brocken von gewaltigemAusmaß, diesen Fels mühelos übern Kopf erhob und mit furchtbarem Schrei in die Rabatte schleuderte, daß er erst im Rosengarten niederfiel. Drei Bediente, die meinVater, wieder beruhigt, aufforderte, den Stein in seine alte Lage zu bringen, vermochten nicht, ihn um mehr als ein Geringes zu verrücken. Kann sein,Vaters Zornstein lag zwischen den Rosen, bis wir das Haus verlassen mußten, vielleicht liegt er noch heute da.
Der kraftvolle Mann wurde vom Schlag getroffen wie der gesunde Baum, den der Blitz über Nacht zur Krüppeleiche macht. Nie habe ich eine traurigereVerwandlung erlebt als die meinesVaters: heute strotzend von Leben, nach dem Inzident ein gramgebeugter Schatten, des Sprechens, Gehens nicht mehr mächtig, der Fähigkeit des Genießens beraubt. Gott schenkte ihm die Gnade, die Zernichtung seines wahren Selbst nicht lang zu überleben, er starb, wie er vorausgesagt, während der erste Schnee desWinters fiel.
Und ich? Wilhelm, während ich auf seinen Spuren wandle, drängt sich die Frage in wechselnden Varianten auf – wer soll ich werden, hinterher, wenn mich der Blitz ereilt? Werd ich zum Kraftwesen, wie mein Vater es vordem war, werde ich meiner Selbst noch eingedenk sein oder als geistloses Tier in den Wäldern hausen? Verhält sich mein Nero, der vermeintliche Dämonenwolf, so sehr anders als das allergewöhnlichste Hundstier? Er schläft auf der Schwelle, läuft an meiner Seite, wie es Hunde tun, verrichtet sein Geschäft. Ich hab ihn nie Besonderes vollführen sehen, im Guten wie im Üblen nicht. Wann bricht das aus ihm hervor, darob ich ihm nacheifern soll, wann wandelt er sich zum mächtigen Geistwesen, das den Wald, die schwärmende Natur beherrscht und gar den Menschen? Noch seh ich nichts davon, steh manchmal sinnend über einem Haufen Kot, den er zurückgelassen und frag mich, ob ich alles in allem gründlich getäuscht werde.
Solch zweiflerische Gedanken waren die meinen nicht am Tag, da ich die Heimat durchstreifte. An der großen Linde, die eine Viertelstunde vor der Ortschaft steht, steig ich vom Pferd, um zu Fuß jede Erinnerung neu, lebhaft, nach meinem Herzen zu kosten. Ich weile unter der Linde, die als Knabe Ziel und Grenze meiner Spaziergänge gewesen. Wie anders! Damals sehnte ich mich in glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich für mein Sein so viel Genuß hoffte, meinen Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt komme ich aus der Welt zurück – doch bin ich noch im Stande, mich Ich zu nennen? Wer ist das, der sich des Kindes erinnert, das staunend ins Leben taumelte? War in jenem Kleinen der Fürchterliche schon angelegt, vor dessen Existenz mir graut? Womit, so frag ich mich, vertändelte wohl ein Frauenmörder, als er noch Kind war, seine Zeit? An welchem Bachlauf spielte Attila, der Hunne, hatte er einen geliebten Hund, ein Lieblingspferd? Was machte ihn zum grausamen Völkerschänder, dem das Leben Tausender nichts galt? Nicht jeder muß, vom Dämon gebissen, zum Dämonen werden – was bringt einen Menschen dem Bösen näher, und dem anderen ist’s vergönnt, in den Gefilden des Gutseins zu wandeln? Ist Frieden auf Erden wahrhaft das, was der Mensch erstrebt, ist ihm nicht vielmehr wohl dabei, in der Sünde sich zu suhlen, von der er mit Gottes Hilfe wieder und wieder sich reinigen kann?
Mit wunderlichen Gedanken dieserArt komme ich der Stadt näher, die alten Gartenhäuschen werden von mir gegrüßt, die neuen sind mir zuwider. Im Hingehen merke ich, daß die Schulstube, wo ein ehrlichesWeib uns Schreihälse zusammengepfercht, in einen Kramladen umgewandelt ist. Ich gehe den Fluß hinab bis an einen gewissen Hof, das war das Plätzchen, wo wir Knaben uns übten, die meisten Sprünge flacher Steine imWasser hervorzubringen. Ich erinnere mich, wie ich manchmal da gestanden und demWasser nachsah, mir die Gegenden vorstellte, wo es hinflösse, bis ich mich ganz imAnschauen einer unsichtbaren Ferne verlor. Sieh, Lieber, was nutzt es uns, so viel zu wissen! Herrlich beschränkt und glücklich waren dieAltväter, die über die Grenze ihres Dorfes niemals hinaussahen – so kindlich ihr Gefühl!Wenn Ulyß von dem ungemeßnen Meer und der unendlichen Erde spricht: das ist so wahr, menschlich, innig, eng und geheimnisvoll.Was hilft mich’s, daß ich jetzt mit jedem Schulknaben nachsagen kann, daß sie rund sei? Der Mensch braucht nur wenige Erdschollen, um
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