Werther, der Werwolf - Roman
MeinVerlobter ist gegangen, ach, er starb in so jungen Jahren, und nun bin ich allein.
Nicht allein, würde ich erwidern, Ihr Vater blieb Ihnen ja, Ihre Geschwister und so mancher Freund. Mehr würde ich nicht andeuten, es bedeutete ja genug. Würde heimgehen, die schwarzen Sachen aus der Truhe nehmen, mich in Trauer hüllen und innerlich doch jubilieren! ja, er ist tot, er war redlich und gewissenhaft – es tut mir leid um ihn, mehr ist über Albert nicht zu sagen. Er war einer von vielen, ich aber, bin ich nicht auserwählt? Meine Horizonte sind so weit gespannt, daß ich dir, Lotte, bald neue Perspektiven öffnen werde, übermenschlich menschliche! Und eines nicht fernen Tages wirst du den Trauerflor ablegen und ein neues Kapitel im Lebensbuch aufschlagen, das heißen wird: Werther!
So ging’s mir eine ganzeWeile,Wilhelm, ich verlor mich imTraumgeflecht meinerWünsche und ward so froh und zuversichtlich bei derVorstellung, daß ich das Jagdhaus inTrauer vorfinden könnte, daß mich ein staunenderAusruf nicht gleich erreichte:
– Ist’s möglich? rief er und wiederholte es: Ist es möglich, seh ich Seine Durchlaucht, den Herrn Gesandtschaftssekretär vor mir?
Als ich aufblicke, stehtAlbert amTor, die Flinte untermArm, als habe er seit meinemAufbruchWache gehalten.Albert, rosig und gesund, durch keine inneren Stürme gebeugt, durch keinen Zweifel angekränkelt – o er wird hundert Jahre werden! durchfuhr’s mich, während ich dieArme ausbreitete und mich herzlich begrüßen ließ.
Während er mich an seinen Busen drückt, schau ich ihm über die Schulter und erkenne denWeg, dieAllee, die ich zum ersten Male fuhr, damals, als ich Lotte zumTanze holte; keinWink dieser glückseligen, hoffnungsdurchtränktenWelt blieb in mir zurück. Mir ist, als ob ich in ein ausgebranntes, zerstörtes Schloß wiederkehrte, das ich als blühender Jüngling gebaut und mit allen Gaben der Herrlichkeit ausgestattet. Ich begreif es nicht, daß ein anderer sie liebhaben kann , liebhaben darf , da ich sie ganz allein, so innig, so vollkommen liebe, nichts kenne, noch weiß, noch habe als sie!
Am 27. Juni.
Über die erste Begegnung mit ihr mag ich nicht radotieren – wozu die Gebetsmühle abnutzen? Es ist nicht anders und wird niemals anders sein, sie greift in mein Gemüt wie sonst keine lebendige Seele. Sinnlos war es, von ihr fortzueilen, sinnlos, rückzukehren; auf die Fahne meiner Existenz steht Charlotte geschrieben, sie ist’s, der ich mich weihe und ewiglich unterwerfe.Während der Stunden unseresWiedersehens, da nichts anders, alles wie früher war, danke ich Gott, der mich bald allem menschlichen Sehnen entheben wird: über- untermenschlich mag ich werden, mir ist es einerlei, wenn nur der Schmerz endloser Hoffnungslosigkeit künftig mir erspart bleibt! Da saß ich gesittet und sehnte mich nach derWolfsexistenz, hoffte, der Mond möge rascher reifen, daß ich verschwinden kann aus meinem Dasein, gleichsam hinüberspränge in das nächste.
Ich will Dir von einer Begebenheit erzählen,Wilhelm, die Licht, nicht nur auf meine seelischeVeränderung, auch auf die moralische Sonderheit wirft. Ich ging ins Jagdhaus, LottensVater zu besuchen, der von einem Übel befallen worden, das ihn in der Stube hält.Als ich anlange, finde ich das Haus in einiger Bewegung und erfahre, drüben imWeiler sei einer erschlagen worden. Ich sehe Lotten damit beschäftigt, demAlten zuzureden, der ungeachtet seiner Krankheit hinüber will, um vor Ort dieTat zu untersuchen. DerTäter ist noch unbekannt, man fand den Erschlagenen des Morgens vor der Haustür und hat Mutmaßungen: der Entleibte war Knecht einerWitwe, die vorher einen anderen in Dienst gehabt, der mit Unfrieden geschieden war.Als ich dies höre, fahr ich mit Heftigkeit auf, ich muß hinüber, kann keinenAugenblick bei Lotten weilen.
Als ich durch die Linden muß, um nach der Schenke zu kommen, wo sie den Körper hingelegt, entsetz ich mich vor dem geliebten Platze: jene Schwelle, die ich mit Lotten oft überschritten, ist mit Blut besudelt. Die Bäume stehen voll im Laub, die Hecken, die sich über die Kirchhofmauer wölben, sind von rosigen Blüten geziert, die Grabsteine dahinter wirken friedlich beschattet – nur in der Szene, die ich vorfinde, ist Frieden mitnichten.Als ich nähergehe, entsteht mit eins Geschrei, ich erblicke einenTrupp bewaffneter Männer, ein jeder ruft, daß man denTäter jetzt herbeiführt. Es ist jener Knecht, der bei derWitwe vordem in Dienst
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