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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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schwarze Autos auf den Hof fahren und wieder abfahren, Menschen in schwarzen Kleidern kommen und gehen. Nicht ein einziges Mal zuvor habe ich gesehen, daß jemand durch die vordere Haustür das Haus betreten hätte. Viele von den Menschen weinen. Ich erkenne Vaire, Anne, Walter und beobachte eine zweite Gruppe, die Familie der anderen Schwester wahrscheinlich, die mit Mann und Kind gekommen ist.
    Hin und wieder lege ich im Laufe dieses langen, heißen Tages ein Nickerchen ein, weil ich hoffe, daß meine Sinne und mein Wahrnehmungsvermögen sich dann erholen. Sie scheinen durch die schreckliche Schlacht an jenem verhängnisvollen Morgen und durch die darauf folgende Flucht aus dem Lot geraten zu sein.
    Einmal, als ich erwache, sehe ich die schmalen Sonnenstrahlen, die durch die winzigen Sprünge und Löcher im Dach eindringen und wie feine Drähte und Bänder und schlanke Säulen in der staubigen Luft hängen. Es ist ganz still im hohen, leeren Heuboden, so still wie auf einer Waldlichtung, wenn die Sonne durch den Morgennebel scheint. Ich bin durstig, doch vor Einbruch der Dunkelheit kann ich nicht hinuntergehen, um etwas zu trinken. Ich dränge den Durst zurück und mache mir Gedanken über die Unempfänglichkeit meiner Sinne. Jener Teil von mir, der Robert ist, ist offenbar durch eine Schwäche meiner sinnlichen Wahrnehmung von mir abgegrenzt. Ich schiebe das alles von mir weg und beschließe, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu schlafen.
    Als ich erwache, verspüre ich ein dringendes Verlangen nach Robert. Nie zuvor habe ich das empfunden. Ich konzentriere mich und verwandle mich mühelos.
    Vorsichtig setzte Robert in der Dunkelheit einen Fuß vor den anderen, um sich nicht auf dem alten, rauhen Holzfußboden Splitter einzuziehen. In der Hand trug er ein Stück Stoff, in das die Mundharmonika eingewickelt war. Es war still im Stall, die Kühe schliefen, die Hunde waren draußen vor der großen Schiebetür angekettet. Biff trottete, seine Kette hinter sich herziehend, zu Robert hin und wedelte mit dem Schwanz, den Kopf gesenkt, als wäre alles seine Schuld.
    Draußen vor der hinteren Fliegengittertür blieb Robert stehen. Drinnen war niemand wach, im Wohnzimmer brannte eine Lampe. Die Fliegengittertür war nicht eingehängt. Robert öffnete sie und ging langsam und leise über den geschrubbten Boden der Veranda, auf dem noch dunkle Flecken zu sehen waren. Die Küche war blitzsauber und sah sehr leer aus, der Eßzimmertisch stand wieder und war frisch poliert. Im Wohnzimmer ruhte auf zwei Sägeböcken ein grauer länglicher Kasten aus Metall mit langen Handgriffen an den Seiten. Der Deckel des Kastens war aufgeschlagen. Er erinnerte Robert an das Schmuckkästchen, das Tante Cat auf ihrem Toilettentisch stehen hatte. Im Inneren des Kastens schimmerte glatter Stoff, der einen so schillernden Glanz hatte, daß man hätte meinen können, er wäre naß. Die Lampe stand dort, wo sonst das Radio gewesen war, auf dem kleinen Beistelltisch mit den dünnen Beinen. Die kleingestellte Flamme war so still, als wäre sie gemalt.
    Robert konnte nicht in den Sarg hineinsehen, deshalb mußte er sich einen Stuhl aus dem Eßzimmer holen. Auf dem Stuhl stehend, die Hände auf dem Rand des Kastens, blickte Robert auf Martin hinunter, der, die Hände auf der Brust gefaltet, zu schlafen schien. Robert hatte Martin nie im Schlaf gesehen, hatte ihn nie zuvor so still gesehen. Immer hatte er gearbeitet, immer war er in Bewegung gewesen, während er Robert von den Tieren auf dem Hof erzählt hatte und von der vielfältigen Arbeit auf dem Feld. Jetzt waren seine Augen in den vielen kleinen Fältchen verschwunden, und sein Mund war fest geschlossen, so, als bisse er knirschend die Zähne aufeinander, und an den Winkeln in einem Ausdruck des Mißfallens herabgezogen. Er trug einen schwarzen Anzug, den Robert noch nie an ihm gesehen hatte, und dazu ein weißes Hemd, das blütenweiß und steif war, und eine blaue Krawatte. Der Mann sah wie Martin aus, dachte Robert, aber es war gewiß nicht der alte frohsinnige Bauer, den Robert gekannt hatte. Lange Zeit starrte Robert in den Sarg hinein, beugte sich weit zu dem Toten hinunter, als könnte er so den leisen Hauch eines Wortes auffangen oder den Ansatz eines Lächelns sehen. Es war, als glaubte er, Martin necke ihn nur, wie er es früher immer getan hatte, wenn er sich ärgerlich gestellt hatte. Und dann schien sich das Gesicht tatsächlich zu verändern, und die Fältchen glätteten sich in einem

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