Werwelt 02 - Der Gefangene
ausruhen. Wieder wallt ein graues Nebelfeld auf, ehe ich erneut ins Bewußtsein zurückfinde, und ich sehe, daß die beiden jungen Leute noch immer an meiner Seite stehen.
Wenn ihr nach Hause geht, sage ich ihnen, werdet ihr mit niemandem über mich sprechen. Denn wenn ihr etwas sagt, dann werden sie kommen und mich töten, und ich bin ein sehr menschenfreundlich gesinntes Wesen. Ich werde euch nichts tun. Sagt niemandem etwas. Und ihr müßt mir helfen, indem ihr mir Wasser und Nahrung bringt. Kleine Tiere, Hühner, Lämmer, auch gekochte Nahrung, obwohl ich gerade jetzt frisches Fleisch brauche, um die Heilung zu unterstützen. Werdet ihr das alles tun?
Ich sehe, daß sie nicken. Noch ein weiteres Versprechen nehme ich ihnen ab, und wieder nicken sie. Ich umfange sie mit meinem Raumsinn, lausche ihrem Atem, nehme ihren Geruch auf. Aber ich kann meine Konzentration nicht zusammenhalten. Gleich werde ich die Macht über sie verlieren. Ich muß es einfach riskieren. Ich lasse sie frei und sehe, wie sie zurückzucken.
Sie weichen im dunklen Keller zurück, und mir wird klar, daß sie mich jetzt, wo mein Wille sie nicht stützt, nicht sehen, sondern nur meine Gegenwart spüren können. Ich wittere die Ausdünstung ihrer Angst, die jetzt sehr stark ist. Sie sprechen nicht miteinander, doch sie weichen weiter zurück, bis zur Kellertür, und laufen dann rasch die Betonstufen hinauf. Ich strecke meine Sinne nach ihnen aus, um zu hören, was sie sprechen. Doch sie sagen nichts, sie haben nur Angst. Ich weiß nicht, ob sie Menschen holen wollen, die mich töten werden, aber ich bin jetzt zu schwach, um sie aufzuhalten. Wenn sie es tun, dann könnte ich mich vielleicht in der letzten Minute verwandeln – aber ich weiß, daß das unmöglich wäre. Ein Mensch in meinem Zustand würde schnell sterben. Doch jetzt kann ich mein Bewußtsein nicht länger festhalten, ich höre noch, wie oben die Wagentüren zugeschlagen werden und das Auto ratternd davonfährt, dann versinke ich in grauen Nebelschwaden.
Der Duft gekochter Nahrung weckt mich, und der Mund wird mir wäßrig. Es ist hell, und ein Sonnenstrahl fällt freundlich in den Raum. Neben der Matratze steht ein Blechteller mit einem großen gelben Berg Rührei darauf. Obenauf liegen Schinkenstreifen und an der Seite ein halbes Dutzend Scheiben braunes Brot. Neben dem Teller steht ein Emaillekrug mit Wasser. Ich schicke meine Sinne aus, um nachzuprüfen, ob das nicht ein Hinterhalt ist. Das Haus ist verlassen, und wenn ich auch die Betonwände mit meiner Wahrnehmungskraft nicht durchdringen kann, so kann ich doch hören, daß nirgends in der Nähe des alten Hauses etwas atmet oder sich regt. Kindliche Tränen springen mir in die Augen. Und dann mache ich mich über die Mahlzeit her, verschlinge alles mit gierigen Bissen, spüle es mit dem kalten Brunnenwasser hinunter. Der Magen knurrt mir vom ungewohnten Luxus dieses zubereiteten Essens. Verspätet hoffe ich, daß man mir nicht irgendein unentdeckbares, heimtückisches Gift unter das Essen gemischt hat, aber ich bin zu hungrig, um mir darüber ernstliche Sorgen zu machen. Gefährlich, dieses Nachlassen der Vorsicht, doch schon im nächsten Moment wird das alles lachhaft. Ich habe mein Leben in die Hände zweier junger Leute gelegt, die bestenfalls unbekannte Größen sind, schlimmstenfalls meine Henker. Mir unter solchen Umständen um meine Sicherheit Sorgen zu machen, ist arroganter Unsinn.
Die Tage wachsen stetig einem heißen Sommer entgegen. Jede Nacht wird der Windhauch wärmer, der durch das zerbrochene Fenster über mein Lager hinweg zur Kellertür weht; jede Nacht bewahrt sich mehr von der Hitze des Tages im Raum, und jeden Morgen, wenn das Sonnenlicht an der weißen Betonwand neben der Treppe entlangkriecht, bis es in einem goldenen Rechteck auf dem staubigen Boden liegt, nimmt die Wärme der Erde zu. Seit einer Woche befinde ich mich nun in diesem Keller, und ich spüre, daß die gebrochenen Knochen allmählich wieder zusammenwachsen. Noch immer werden sie von den starren Muskeln gestützt, aber schon spüre ich, daß es möglich ist, einen nach dem anderen zu entspannen. Das Hinterbein ist noch nicht zu gebrauchen, und hier und dort sind die Gelenke und die langsam verheilenden Wunden auf meiner Brust und meinem Unterleib noch immer geschwollen, doch das gebrochene Sprunggelenk schmerzt fast nicht mehr, der andere Vorderlauf ist immerhin schon wieder für einige Dinge zu verwenden. Mein Kopf und mein Rücken,
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