Werwelt 02 - Der Gefangene
Küchentisch, daneben zwei Gläser, in denen noch ein Rest Milch war. Das eingetrocknete Ketchup auf den Tellern verriet, daß Renee und Mina zum Mittagessen wahrscheinlich Würstchen gegessen hatten, doch es sah Renee gar nicht ähnlich, eine solche Unordnung zurückzulassen. Wenn sie Zeit gehabt hätte, dann hätte sie die Teller gespült. Wenn sie Zeit gehabt hätte? Er blickte in den Kühlschrank, ins Spülbecken, unter das Spülbecken, schimpfte sich einen Idioten und rannte ins Schlafzimmer.
Renees Schrank war durchwühlt. Kleider lagen auf dem Boden zwischen den Schuhen, verbogene Bügel waren im Zimmer verstreut, Gürtel achtlos hingeworfen. Er versuchte, sich zu erinnern, was sie am Morgen angehabt hatte, und welche Kleider weg sein könnten. Zwei oder drei, an die er sich zu erinnern meinte, waren nicht da, aber ganz sicher war er nicht. Dann lief er in Minas Zimmer und fand ihren Schrank in ähnlichem Zustand vor. Dann sah er, daß Bruno, ihr Teddybär, nicht auf dem Bett war, wo er sonst tagsüber lag. Mit starrem Blick hob er den Kopf. Was konnte geschehen sein? Er zog die kleine Tür zur Kammer neben der Küche auf und sah, daß ein Koffer fehlte. Fort. Sie waren wirklich fort.
Ungeduldig wartete er auf die Telefonvermittlung, drückte mehrmals in rascher Folge die Gabel nieder, so daß die Telefonistin ihn ärgerlich zurechtwies, als sie sich meldete. Er verlangte Frank Rossis Nummer, und gleich darauf war die Verbindung mit seinem Chef hergestellt.
»Frank, meine Frau und Mina sind weg. Ich weiß nicht, wo sie sind, aber einige von ihren Sachen fehlen. Weißt du, ob Renee heute in der Redaktion angerufen hat, während ich unterwegs war?«
»Ich hab’ nichts davon gehört«, erwiderte Frank. »Warte mal einen Augenblick, Barry.« Er hörte, wie der andere Mann mit seiner Frau sprach. »Judy sagt mir eben, daß sie hier auch nicht angerufen hat, obwohl Judy den ganzen Tag zu Hause war.«
»Frank, sie sind weg!« rief Barry erregt ins Telefon. »Ihre Kleider und Minas Teddybär.« Barry brach ab, als er merkte, daß er weinte. »Lieber Gott, wo können sie nur sein?«
»Jetzt verlier nicht gleich die Nerven, Barry«, sagte Frank, und seine Stimme wurde blechern und dünn, als Barry den Hörer auf den Tisch legte.
Er hörte, daß Frank noch etwas sagte, doch er hatte sich schon abgewendet und ging wie benommen zur Hintertür, um in die Dunkelheit hinauszuspähen. Am Bewässerungsgraben stimmten die Frösche ihr abendliches Konzert an, und der schwere Duft des Oleanders hing in der Luft wie ein tödliches Gas.
Konnte es sein, daß zu Hause etwas passiert war? Daß ihre Mutter einen Herzanfall gehabt hatte? Daß mit Vaire etwas los war? Doch sie wäre niemals abgefahren, ohne ihm einen Brief oder irgendeine Erklärung zu hinterlassen. Ratlos wanderte er in der Küche hin und her und schaltete schließlich das Licht ein. Vor dem Küchentisch blieb er stehen und blickte auf die mit Ketchup verschmierten Teller hinunter. Es war so gar nicht ihre Art, schmutziges Geschirr stehenzulassen. Und auf einem der Teller hatte ein Finger mit dem Ketchup Kreuze gemalt, drei ganz deutlich erkennbare Kreuze, wie absichtlich mit dem Ketchup hingemalt. Schlagartig kam ihm die Erleuchtung. Er sah die Szene wieder vor sich, wie er mit Renee nach der Scheidung im Cafe in Grand Rapids gesessen und sie gesagt hatte, Bill tränke soviel, daß seine Initialen eigentlich drei X sein müßten, wie auf den Whiskyflaschen in den Comicheftchen. Drei X. Bill! Im selben Moment, als die Erkenntnis kam, noch ehe die Szene aus der Erinnerung verblichen war, ehe sich die Worte in seinem Gehirn geformt hatten, schleuderte das Tier ihn aus seiner Bahn wie ein Papiermännchen.
Ich verwandle mich.
So jäh bin ich nicht mehr lebendig geworden, seit ich das letzte Mal meinem Feind begegnet bin. Ich breche brüllend hervor, so voller Haß bin ich darüber, daß dieser niederträchtige Mensch, dem ich das Leben gelassen habe, jetzt erneut in mein Leben eingegriffen hat. Diesmal erwartet ihn der Tod. Er will es ja nicht anders.
Ich lasse mich auf alle viere fallen und trotte durch das Haus. Sein Geruch hängt in der Luft. Im Wohnzimmer finde ich den Sessel, auf dem er gesessen hat, die Armlehne, auf der seine Hand lag. Ein Geruch nach neuem Leder, der sich mit seiner Ausdünstung mischt, führt mich durch den Flur ins Schlafzimmer. Auf dem Boden neben dem Bett nehme ich einen stark riechenden Fleck seiner Körperausdünstung wahr. Hier
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