Werwelt 03 - Der Nachkomme
weiß Gott nicht alt.«
Es tat ihm gut zu sehen, daß die Traurigkeit aus ihrem Gesicht wich und ein Lächeln darin erblühte. Sie hob plöt z lich beide Arme, umfaßte seinen Kopf und zog ihn zu sich herunter, um ihn rasch auf die Lippen zu küssen.
»Du bist ein junger Mann«, flüsterte sie. »weil du das sein kannst, was du wirklich sein willst.«
Bo kam sich vor, als wäre er zum Ritter geschlagen worden. Unter der Berührung ihrer Lippen durchzuckte ihn eine Wärme, die so angenehm war, daß er am ganzen Kö r per eine Gänsehaut bekam. Er lächelte und wäre am lieb s ten aufgesprungen und hätte getanzt. Was für ein schöner Tag, ein wunderbarer Tag.
Wieder auf der Straße, hielten sie einander bei den Hä n den, während sie von Kaufhaus zu Kaufhaus wanderten. Bo sah sich Schmuck mit ihr an, erklärte ihr, welche St ü cke gut waren und welche von billiger Herstellung, zeigte ihr gutgefaßte Steine, machte sie darauf aufmerksam, daß mancher Modeschmuck besser aussah als echter Schmuck, weil er mit Sorgfalt gemacht war. Und als sie sich auf die Suche nach ein paar Serviettenringen für eine Arbeitskoll e gin machte, kaufte Bo einen goldenen Ring mit einem Opal, einen winzigen nur, der jedoch ein so schönes Feuer hatte, wie er es selten gesehen hatte. Der Ring war mit so l cher Sorgfalt gearbeitet, daß er nur von jemandem gemacht sein konnte, der Edelmetalle liebte. Es war ein großartiger Kauf, aber er mußte den größten Teil des Geldes dafür hi n legen, das für die Zugkarte bestimmt gewesen war, und er dachte, na schön, dann muß ich eben per Anhalter fahren, wenn Mary Louise mir kein Geld schickt. Und wenn schon!
»Du bist natürlich zum Weihnachtsessen eingeladen«, sagte Lilly zu ihm, als sie nebeneinander im gerammelt vollen Aufzug standen.
»Ich kenn ’ deine Leute doch nicht einmal«, erwiderte er und spürte, wie sein Magen wieder flattrig wurde.
»Aber sie wissen von dir«, versetzte sie, als sie in einem anderen Stockwerk ausstiegen. »Sie wissen, daß du sehr krank warst und mit dem Essen vorsichtig sein mußt, und sie wissen, daß du hier nicht zu Hause bist.«
»Ich würde ihnen ja gern etwas kaufen, aber …« , sagte er. Schließlich hatte er keine Ahnung, was das für Me n schen waren.
»Natürlich, paß auf, Daniel spielt leidenschaftlich gern Schach, aber er kann nur zu Hause spielen, weil er nur die großen Figuren hat, die Polly ihm einmal Vorjahren g e schenkt hat. Es gibt aber so kleine Reiseschachspiele, und über so eines würde er sich bestimmt freuen. Er könnte es mit in die Firma nehmen.«
Bo betrachtete Lillys Gesicht, während sie ihm alle möglichen Geschenkvorschläge für Daniel und Polly machte, das ältere Ehepaar, das sie › ihre Leute ‹ nannte. Sie hatte ihm erzählt, daß sie sie erst im Jahr zuvor kenneng e lernt hatte und daß sie sie bei sich aufgenommen hatten.
»In ihrer Küche hat Polly alles, was man sich nur de n ken kann, aber sie würde sich vielleicht über ein Buch freuen oder ein paar Taschentücher oder über ein Karte n spiel.«
Bo bemühte sich gleichzeitig, das alles zu behalten und einen Entschluß zu fassen. Der Gedanke, Lillys Leute ke n nenzulernen, beunruhigte ihn, doch er reizte ihn auch. Er mußte sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß er wahrscheinlich nicht viel jünger war als diese beiden Me n schen, daß er ja schließlich nicht die Eltern seiner Ause r wählten kennenlernen sollte, sondern ein nettes Ehepaar, gute Freunde seiner guten Freundin.
Es war dunkel und hatte wieder zu schneien angefangen, als sie ihre Einkäufe erledigt hatten und in die Straßenbahn stiegen, um nach Maiden zurückzufahren. Sie hatten ve r einbart, die Geschenke auf Bos Zimmer einzupacken und dazu Käse und Cra c kers und Äpfel zu essen, die sie unte r wegs mitgenommen hatten. Bo war müde. Im allgeme i nen haßte er es, Einkäufe zu machen, ganz besonders zu Wei h nachten, wo alle, die man kannte, schon alles hatten, was sie brauchten, und wo man genau wußte, daß man – genau wie alle anderen – nur Geld ausgab, weil es der G e burtstag des Herrn war. Doch an diesem Tag hatte ihm das Einka u fen wirklich Freude gemacht. Jedes Geschenk hatte er mit Bedacht ausgesucht, hatte die Verkäufer wie eine Hausfrau über die Qualität ausgefragt, mit Lilly über die Spielsachen gelacht, die sie für die Nachbarskinder besorgt hatte.
Lilly zeigte ihm, wie man eine hübsche Schleife band und man selbst etwas unförmige Päckchen
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