Werwelt 03 - Der Nachkomme
eine körperliche Last, die Mary Louise ihm aufgebü r det hatte. Gewiß, dachte Bo, von Liebe erfüllt waren die letzten Jahre nicht gerade gewesen. Doch er hatte sie g e liebt, sie hatten schöne Zeiten miteinander gehabt und sie hatten Charles gehabt, doch dann hatten sie ihn verloren. Das war nun über zwei Jahre her; Ende Juni war es pa s siert. Und jetzt sprachen sie kaum noch ein Wort miteina n der. Vielleicht war die Scheidung das Richtige. Er empfand jedenfalls ein unmittelbares Gefühl des Verlusts, so wie er das verspürte, weil er Lilly nicht finden konnte. Mary Louise war seine Frau, und Lilly war eine gutherzige junge Frau, die ihm mit ihrer Pflege sein Leben wiedergeschenkt hatte. Er war überzeugt, daß der Krebs ihn getötet hätte, wenn das Tier und Lilly ihn nicht gerettet hätten.
In einer Woche mußte er vor Gericht erscheinen, das b e deutete, daß er wahrscheinlich spätestens einen Tag nach Weihnachten abreisen mußte, wenn er per Zug noch rec h tzeitig eintreffen wollte. Er mußte ja die billigste Verbi n dung nehmen, die es gab, und mußte sich außerdem noch einen Anwalt suchen. Der Gedanke, vor ein Gericht treten zu müssen, machte die Bürde, die ihn belastete, noch schw e rer. Man würde ihn fertigmachen vor Gericht, schon gar mit dem › Beweismaterial ‹ dieser beiden Detektive, mit der F o tografie, die ihn und Lilly im Park zeigte. Dabei war es so harmlos gewesen, alles war so harmlos gewesen. Und bei diesem Gedanken regte sich Zorn in Bo. Verfluchen sollte man sie alle! Sie würden nicht nur die Geschichte seiner Heilung nicht glauben, sie würden ihn für einen a l ternden Schurken halten, der ein junges Mädchen verführt hatte, und dabei hatten sie einander kaum berührt, sich nicht einmal geküßt. Bo verspürte einen solchen Zorn, daß er mit seiner geballten Faust die jetzt neben seinem leeren Teller lag, am liebsten donnernd auf den Tresen geschlagen hätte.
»Fröhliche Weihnachten, Freund!« sagte eine Stimme mit falscher Herzlichkeit neben seinem Ellbogen.
Er drehte sich um und sah einen hageren, rotgesichtigen Nikolaus neben seinem Hocker stehen, die geöffnete Hand ausgestreckt. Der falsche Bart hing ihm zerrupft von den Ohren, und die Augen zwinkerten, wie sich das für einen gutmütigen Nikolaus gehörte. Zweifellos hatte der Alk o hol, dessen Dunst den Atem des Nikolaus schwängerte, daran seinen Anteil. Bo hätte dem blöden Kerl am liebsten einen Kinnhaken versetzt.
»Na, ich bin doch so früh am Morgen nicht auf einen Geizhals gestoßen«, dröhnte der Nikolaus, so daß die and e ren Gäste die Köpfe drehten. »Helfen Sie den Kindern von St. Bonifaz mit einer kleinen Gabe. Verzichten Sie heute einmal auf die zweite Tasse Kaffee!«
Die Stimme des Mannes war so widerwärtig wie sein Atem, doch er ließ nicht locker, und die anderen Leute zeigten jetzt Mißbilligung darüber, daß Bo keine Anstalten machte, etwas zu geben. Schließlich gab er klein bei und kramte ein paar Fünfcentstücke heraus, die er von den T e lefongesprächen am vergangenen Abend noch übrig hatte.
»Herzlichen Dank, Sir, ein paar Fünfer für die armen Kinder.
Ich danke Ihnen sehr für ihre menschenfreundliche Großzügigkeit.«
Bo war drauf und dran eine zornige Erwiderung zu m a chen, doch der Nikolaus trottete schon weiter, um den ü b rigen Gästen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Kel l nerin sah mit säuerlicher Miene zu, wie der größte Teil i h rer Trinkgelder in den roten Eimer wanderte.
Weihnachten, dachte Bo. Er wollte Lilly etwas kaufen, auch wenn die Dankbarkeit, die er ihr entgegenbrachte, größer war als jedes Geschenk, das er ihr machen konnte. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, sie ausfindig zu machen. Die anderen Carrothers im Telefonbuch vielleicht. Er ließ zehn Cents unter seinem Teller liegen und glitt vom Hocker. Sie stand beinahe direkt hinter ihm, so daß er sie fast umgestoßen hätte.
»Willst du einkaufen gehen?« fragte Lilly, ihm ins ve r dutzte Gesicht blickend.
Bo spürte förmlich, wie sein Gesicht aus den Fugen g e riet, ehe es sich zu einem schiefen Lächeln zusammenfand.
»Wie bist du – ich meine, woher wußtest du, daß ich hier bin?«
»Es war doch nicht schwer«, erwiderte sie und schob i h re Hand durch seinen Arm, als sie gemeinsam zur Tür gi n gen. »Es gibt schließlich nur ein einziges Hotel in Maiden, und das hier ist das nächste Restaurant, und jetzt ist Früh s tückszeit.« Sie blickte mit einem so strahlenden
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