Werwelt 03 - Der Nachkomme
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Die Worte sprechen etwas an, das tiefer ist als meine Sinnenfreude, meine Wonne an Kraft und Bewegung. Sie sind wie der Ruf, der jetzt jede Nacht zu mir dringt, so klar und deutlich, daß mein Fell sich aufstellt und ich nach allen Richtungen spähe, den Ursprung dieses Rufs zu finden. Es ist so, als wäre da etwas, das ich noch nicht fassen kann, das sich dicht an der Peripherie meines Raumsinns befindet und sich mir dennoch entzieht. So stark ist das Gefühl, daß ich manchmal aufspringe und in wilden Sätzen über die Felder hetze, um ihm nachzujagen. Es ist räumlich weit entfernt, und ich bin noch nicht sicher, wo es ist.
Krachend bricht sich die Brandung. Gischt schleckt schäumend an die Felsen und versickert in die kalten kle i nen Salzlachen. Es ist bitterkalt und dennoch möchte ich schwi m men, die Berührung des Wassers rund um mich spüren. Der Mond gleitet über den Himmel, nur selten sic h tbar zw i schen den tief dahintreibenden Wolken über dem Meer. Jede Nacht, wenn er sich langsam nach Westen neigt, spüre ich mich stärker angezogen.
Jetzt. Es ist beinahe eine Stimme, beinahe ein Name. Das Bild eines Geschöpfs zeigt sich, das so ist wie ich, aber noch unerweckt . Es sendet Botschaften aus, ohne sich de s sen bewußt zu sein. Es ist noch ungeformt, verliebt noch in die sinnlichen Empfindungen des Lebens. Ich lausche. Es ist der, den ich finden muß. Auch andere senden vom leuchtenden Spiegel des Mondes Botschaften zu mir, and e re, die ich vielleicht leichter finden würde. Die Nacht ist jetzt von Schreien erfüllt. Sie hallen in einer Kammer me i nes Geistes wider, von der ich nicht wußte, daß ich sie h a be. Sie sind wie die Schreie einer lärmenden Menge, die meine Aufmerksamkeit verlangt. Aber nur einer ist der Richtige, der, der mich aus großer Ferne ruft, unbewußt ruft. Und ich lausche ihm, seiner Stimme, allein, wie dem Gesang eines Nachtvogels, der in der Finsternis singt und dessen Augen noch nicht geöffnet sind. Ich lausche. Bald werde ich wissen wohin, und dann werde ich gehen. Dies ist der Grund, weshalb ich hier bin. Das Lernen und die Freude sind Schritte, die zu dieser Notwendigkeit führen und zudem wissen, wohin unser Weg weiterführen wird. Ich lausche, während der eisige Wind durch mein Fell streicht, und die Stimme in der Dunkelheit singt, die sie umfangen hält.
› 13. Januar, 1938
Lieber Bo,
ich muß mich beeilen. Sie will fort und läßt mich kaum noch die Feder zur Hand nehmen. Gestern Nacht hat sie eine Botschaft erhalten. Wir müssen fort, sonst geht sie ohne mich, hat sie gesagt. Ach, Bo, ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie sagte, ich soll das ganze Geld nehmen, das ich habe und mir ein Billett nach St. Louis besorgen. Aber vielleicht gehen wir auch noch weiter fort. Sie will mich nicht ferti g schreiben lassen. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich.
Lilly. ‹
› 21. Januar, 1938
Lieber Bo,
in Beantwortung Ihres Schreibens in bezug auf Lilly müssen wir Ihnen leider mitteilen, daß wir nicht mehr wi s sen als Sie. Eines Morgens stand sie auf, packte einen Ko f fer, der kaum größer war als eine Hutschachtel, und ging zur Tür hinaus. Sie weinte bittere Tränen, sie konnte uns nur noch rasch jedem einen Abschiedskuß geben, ehe sie zur Tür hinausrannte. Sie gebrauchte das Wort › Zwang ‹ , und Polly und ich sind der Meinung, daß sie an irgendeiner psychologischen Störung leiden muß. Das soll aber nicht heißen, daß wir sie für verrückt halten oder etwas in dieser Richtung. Sie ist ganz zweifellos ein wunderbares Mä d chen, und wir lieben sie wie eine eigene Tochter. Doch sie wurde buchstäblich von hier weggezogen, und das ist keine Übertreibung.
Wir haben das alles besprochen und sind zu dem Schluß gekommen, daß sie volljährig ist und es uns nicht ansteht, die Polizei zu rufen und sie wie eine Verbrecherin aus dem Zug holen zu lassen. Sie sprach von St. Louis, aber mehr wissen wir nicht. Wissen Sie, als sie vor etwas mehr als einem Jahr eines Tages bei uns auftauchte, erzählte sie uns, sie hätte keinen festen Wohnsitz und keine Familie, und es wäre ihr in ihrem Leben viel Trauriges widerfahren. Aber sie hat uns nie etwas genaues erzählt, was dazu dienen könnte, sie ausfindig zu machen; sie hat uns keine Namen und keine Adressen genannt. Auch wir fühlen uns scheu ß lich hilflos, Bo. Verlassen Sie sich drauf, wenn wir etwas von ihr hören, schicken wir Ihnen sofort ein Telegramm. Und wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie das
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