Werwelt 03 - Der Nachkomme
gleiche tun würden. Unseren Kummer teilen wir mit Ihnen.
Gott behüte Sie!
Dan und Polly. ‹
Der Zug ratterte langsam durch neue Vororte. Schnee b e deckte die Gärten und Zäune, die in endloser Wiederh o lung vorüberzogen, während der Zug über Bahnübergänge ru m pelte, vorbei an den schrill bimmelnden Glocken und den grell blinkenden Lichtern, vorbei an den Warnkreuzen, die wie die gekreuzten Gebeine auf einer Giftflasche au s sahen, vorbei an den Autos, die in weiße Dampfwolken eingehüllt an den Übergängen warteten, ungeduldige G e sichter hinter den frostbeschlagenen Windschutzscheiben. Lilly war zu warm im überheizten Waggon, aber sie konnte sich nicht aufraffen, ihren Mantel auszuziehen. Sie saß jetzt seit drei Stunden in diesem Zug und hatte nichts gegessen, nicht einmal gefrühstückt. Die völlige Betäubtheit in ihrem Inn e ren machte ihr Kopfzerbrechen. Da hatte sich etwas z u sammengekrampft und wollte sich nicht wieder lockern.
› Wir sind nie zuvor in Konflikt geraten, Lilly. ‹
Lilly antwortete, indem sie die Worte dachte, nicht flü s terte, wie sie das sonst manchmal tat. Es saßen ja Me n schen rundherum.
› Du zwingst mich, die Menschen zu verlassen, die ich liebe, alle. ‹
› Meine eigenen Erfordernisse müssen zuerst kommen. ‹
› Warum müssen wir fort? ‹
› Es ist Zeit, meine Zeit zu – ich kann das Wort nicht s a gen. Meine Zeit ist gekommen, einen anderen meiner Art zu suchen und mich mit ihm zu vereinigen. ‹
› Du willst dich paaren? ‹
› Es ist beinahe das gleiche wie eure Paarung, aber wir müssen dazu eine besondere Stufe in unserem Wachstum erreicht haben. Es geschieht plötzlich, und es muß vol l bracht werden. ‹
› Kannst du es denn nicht in Boston tun? ‹
› Es gibt nur einen ganz bestimmten, mit dem ich mich vereinigen kann. Wir müssen auf die Reise gehen, um ihn zu finden. ‹
› Und woher weißt du, daß er in St. Louis ist? ‹
› Ich weiß es gar nicht. Aber in der vergangenen Nacht habe ich eine Botschaft aus dieser Richtung erhalten. ‹
›O mein Gott, ist das komisch! Du könntest ja eine A n nonce in die Zeitung setzen.«
Lilly konnte die Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten, und gleichzeitig lachte sie. Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch, fand es, und sobald die Tränen zu fli e ßen begannen, brach sie in tiefes Schluchzen aus, das sie nicht zurückhalten konnte. Die Frau neben ihr sah sie mit freundlicher Teilnahme an.
»Geht es Ihnen nicht gut?« fragte sie. »Soll ich den Schaffner rufen?«
»Nein, bitte nicht. Es geht schon«, erwiderte Lilly. »Ich gehe nur das erste Mal auf längere Zeit von zu Hause fort.«
»Ach ja, das ist immer etwas Trauriges«, meinte die Frau lächelnd. »Aber dann kann man sich auch wieder auf die Heimkehr freuen, wissen Sie.«
Lilly versuchte, nicht mehr zu denken, sich einzig auf einen der rituellen, eintönigen Gesänge zu konzentrieren, die das Tier manchmal anwendete, um inneren Frieden zu schaffen. Sie sagte die Worte in Gedanken vor sich hin, gewahr, daß das Tier nahe an der Oberfläche war und z u hörte, aber unfähig war, ihr zu helfen.
› Warum bist du so gut zu anderen Menschen und so grausam zu mir? Ich bin dir doch die Nächste. ‹
Aus dem Inneren folgte ein langes Schweigen, als kön n te das Tier auf diese Frage keine Antwort finden.
› Ich war gut. ‹
› Du hast andere Menschen geheilt, andere Menschen vor Schmerz bewahrt, und nun entreißt du mich den einzigen Menschen, die ich je geliebt habe. ‹
› Bei dir war ich am gütigsten. ‹
› Ich verstehe nicht, was du meinst. ‹ Beinahe hätte Lilly in ihrem wachsenden Zorn die Worte laut herausgesagt.
› Ich habe dir ein Jahr Leben geschenkt. ‹
› Ich möchte wissen, ob ich ein echter Mensch bin. ‹
Sie stellte die Frage plötzlich und unvermittelt, obwohl es die drängendste Frage war, die sie nie zu stellen gewagt hatte. Doch wenn dies ihr Ende sein sollte, wenn das Tier jetzt einer unvorstellbaren Vereinigung mit einem anderen Geschöpf seiner Art entgegenstrebte, dann würde sie vie l leicht nie wieder ins Leben zurückkehren, nie mehr die Chance haben, diese Frage zu stellen.
› Das wußte ich bis vor kurzem selbst nicht. ‹
› Bitte sag es mir. Ich muß es wissen. ‹
› Als meine Wandlung geschah – es ist wie der Beginn der Geschlechtsreife bei euch –, da wußte ich um meine Menschenwesen, aber ich hatte es zuvor nicht gewußt. ‹
› Sag es mir! ‹
› Das
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