Werwelt 03 - Der Nachkomme
Zimmer hergerichtet hatte, als Charles noch ein winziges strampelndes Bündel gewesen war, das manchmal die ga n ze Nacht lang gequäkt hatte. Die Tierbilder an den Wä n den, das Bett mit der leuchtenden indian i schen Decke, das Robin-Hood-Kostüm, das er ihm für die Theaterauffü h rung in der Schule gekauft hatte. Bo erinnerte sich, was für e i nen Bombenerfolg er gehabt hatte, und sah vor sich den kräftigen, blonden Jungen mit der spitzen Mütze und dem waldgrünen Wams, den Bogen über der Schulter. Ach, was für ein Mann aus ihm geworden wäre, dachte Bo. Keine Tränen stiegen in ihm auf, wie so oft in der Vergangenheit. Es war jetzt, als wären alle Tränen in ihm versiegt, als w ä ren sie alle in einen stillen Teich g e flossen, so daß er jetzt mit einem heiteren Gefühl der Eri n nerung an seinen Sohn denken konnte, gerade so als wäre er jetzt älter, und sein Sohn wäre erwachsen geworden und von zu Hause fortg e gangen wie jeder andere Sohn. Gerade so als wäre der U n fall nie geschehen. Er war ein so guter Schwimmer gew e sen, und wenn er nicht versucht hätte, diesen anderen Ju n gen zu retten, oder wenn sie ihn nicht ins Sommerlager geschickt hätten, dann wäre es nie zu dem Unglück g e kommen. Doch er war so stolz auf seine Schwimmkünste gewesen, so stolz darauf, zu den Pfadfi n dern zu gehören. Lieber Gott, dachte Bo und lächelte, was war er doch für ein prächtiger Junge. Auch der Traum fiel ihm wieder ein, den er in Boston gehabt hatte, als er Charles draußen auf der Wiese wiedergesehen hatte, wo sie früher immer z u sammen Ball gespielt hatten. Das war wirklich, dachte er. Ich weiß, daß du dort bist, Charles, dachte er. Ich weiß, daß wir uns wiedersehen werden. Er ging in sein eigenes Zi m mer zurück, packte seine Sachen und verließ zum letzten Mal das Haus. Am folgenden Mittwoch, dem ersten Fe b ruar, an dem Tag, an dem er nach St. Louis reisen wollte, erhielt Bo eine Ansichtskarte, die ihm an seine neue Adre s se nachgeschickt worden war. Das Bild zeigte einen Mann, der auf dem Wasser eines Sees dahintrieb. Darunter stand: › Schwimmen im Großen Sal z see – ein Kinderspiel. ‹ Auf der Rückseite standen sein N a me und seine Adresse und ein paar hastig hingeworfene Worte.
› Liebster Bo, sie hat den, den sie sucht, noch immer nicht gefunden. Aber sie steht kurz vor einer Wandlung. Dann werde ich nicht mehr hier sein. Ich bin so traurig, mein Liebster. Leb wohl. Ich werde Dich immer lieben.
Lilly. ‹
Seine Hände zitterten, als er die wenigen Zeilen immer wieder durchlas und sich bemühte, sie zu verstehen, mehr aus ihnen herauszuholen. Er warf einen Blick auf das Kleingedruckte in der linken oberen Ecke der Karte.
› Salt Lake City, eine Stadt breiter Alleen und großzüg i ger Parkanlagen. Hier ist die Universität Utah zu Hause. Die Stadt liegt vor der prächtigen Kulisse der malerischen Wasatch-Berge mit einer Höhe von zwölftausend Fuß. ‹
Noch einmal las er das, was Lilly geschrieben hatte. Was meinte sie, wenn sie von einer bevorstehenden Wan d lung sprach? Daß das Tier sich verwandeln würde? Nein, wahrscheinlicher war, daß das Tier Lilly abstreifen würde wie eine alte Haut, um eine andere Gestalt anzunehmen. Doch warum? Das war eine dumme Frage, da er doch nicht einmal wußte, warum das Tier überhaupt existierte – ob es überhaupt existierte. Es war alles so phantastisch – doch Lilly war echt. Er wußte, daß sie so wirklich war wie er selbst, mehr als er selbst, weil sie so voller Liebe war, so schön und so gütig zu jedem Menschen. Zum ersten Mal, seit er nach Hause gekommen war, spürte er Zorn in sich aufsteigen, Zorn gegen das Tier, das ihn vor dem Tod b e wahrt hatte und jetzt, auf dem Wege irgendeines unvor s tellbaren Prozesses, den es durchmachen mußte, seine G e liebte in die Vergessenheit stoßen wollte. Warum konnte es Lilly nicht einfach zurücklassen? Warum konnte es nicht einfach fortgehen und eine andere Gestalt annehmen und Lilly als gewöhnliches menschliches Wesen zurücklassen? Vielleicht konnte er sie finden, vielleicht ließ sich das Tier erweichen. Es war intelligent, wenn auch nicht auf me n schliche Weise.
Noch ehe er mit seinen Überlegungen zu Ende war, sprang er auf und begann wieder zu packen. Guter Gott, dachte er, während er wieder einmal Kleider in seinen Ko f fer stopfte, fünfzehn Jahre oder länger bin ich keinen Schritt aus Wh i tethorn hinausgekommen, und jetzt bin ich plötzlich stä n dig auf der
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