Werwelt 03 - Der Nachkomme
Sol legte seine Hand auf Bos Schulter und lächelte. »Ja, einen kenn ’ ich. Er ist ein richt i ger Einzelgänger, ein Außenseiter wie wir hier im Morm o nenland.« Er setzte sich neben Bo nieder, der an seiner Werkbank im Souterrain des Ritz sein Mittagsbrot verzeh r te. »Sie wissen ja, diese Heiligen hier nennen jeden, der nicht zu ihrer Sekte gehört, einen Heiden.« Bo blickte auf und lachte.
»Ja, ich komm ’ mir hier draußen auch wie eine verlor e ne Seele vor. Aber wenigstens brauche ich zum Trost ke i nen Alkohol oder Tabak mehr.«
»Ah ja«, meinte Sol. »Da sehen Sie, wie vernünftig Sie sind. Vernünftiger als ich, ein erbärmlicher irisch-katholischer Jude, der ohne sein Glas Wein am Abend nicht auskommen kann.«
Einen Moment lang machte er eine ernste Miene und sein Gesicht bekam wieder diesen komischen Zug, der Bo aufgefallen war, als er dem Mann das erste Mal begegnet war.
»Und Sie haben wirklich geträumt, Sie träten aus ihrem Körper heraus?«
»Ich hab ’ das mehr als einmal erlebt«, erwiderte Bo. »Aber das letzte Mal wurde es wirklich beängstigend, und ich glaube einfach, es ist besser, wenn ich mich informi e re.«
»Können Sie am Sonntag zum Essen kommen?«
»Gern, das wäre großartig.«
»Dann kommen Sie. Ich werd ’ Ihnen einen Verrückten vorstellen. Er ist genau wie Sie.«
Jetzt lächelte er wieder.
Nicholas Wiedemann hatte eine solche Masse schlohwe i ßen Haares und Bart, daß Bo fand, er sähe aus wie ein Mann, der hinter einer schneebedeckten Hecke hervo r späht. Alles, was man von ihm sehen konnte, waren seine Augen und die gewaltige, schnabelartig abwärts gebogene Nase; doch das reichte den meisten Leuten. Die Augen w a ren von einem so dunklen Braun, daß sie nur Pupille zu sein schi e nen in einem schwarzen, geheimnisvollen Bi n nensee wie dunkle Monde unter den halbgeschlossenen Lidern. Die N a se hatte etwas raubvogelhaftes, fand Bo, wie der Schn a bel einer großen Eule. Wiedemann war beinahe so groß wie Bo, wirkte jedoch kleiner, da er gekrümmt ging. Er schien an irgendeiner Wirbelsäulenkrankheit zu leiden, die Krü m mung seines Rückens war jedoch nicht so stark, daß man sie als einen Buckel hätte bezeichnen kö n nen.
Die drei Männer saßen vor dem breiten offenen Kamin mit dem Marmorsims in Sols Wohnzimmer und tranken ihren Nachtischkaffee. Sols Frau hatte es sich etwas abseits in einem Sessel bequem gemacht. Sie war still, lauschte dem Gespräch der Männer, warf ab und zu einen Blick zu ihnen hinüber, sprach aber nicht. Es war still im Haus. Nur das langsame Ticken einer alten Standuhr in der Ecke des Zimmers war zu hören.
»Dann sind Sie also kein Eingeweihter«, stellte Wied e mann fest. Seine Stimme war heiser, beinahe ein widerha l lendes Flüstern.
»Nein, ich bin wahrscheinlich ein blutiger Anfänger«, versetzte Bo, etwas eingeschüchtert von dem bärtigen Mann, der so weise schien.
»Die Dämonen hätten Sie leersaugen können«, sagte Wiedemann.
»Ich hab ’ nur eine Frage«, warf Sol ein, seine schlanke Hand hebend. »Wie kommen zwei Amerikaner, die Arbeit haben und gesund sind, dazu, sich mit Dämonen einzula s sen?«
Wiedemann drehte seinen Kopf langsam zu Sol, und sein Bart rührte sich leicht, als er hinter dem dichten G e strüpp seines Haares lächelte.
»Niemand läßt sich freiwillig mit Dämonen ein«, ve r setzte er. »Aber wenn man unvorsichtig ist –« und er wan d te sich wieder Bo zu »- oder wenn man unerfahren ist, dann fallen die Dämonen über einen her.«
»Aber ich war doch schon vorher dort gewesen«, wandte Bo ein. »Und einmal war ich sogar oben bei meinem Ju n gen – im Himmel«, fügte er hinzu und warf einen Seite n blick auf Sol, der beide Hände hob und durch die Luft w e delte, bevor er sie wieder an seine Kaffeetasse legte.
»Sie haben mir erzählt, daß Sie dreimal bei den Toten gewesen sind«, bemerkte Wiedemann, als hätte Bo übe r haupt nicht gesprochen.
»Nein, nur das eine Mal, als ich Charles sah«, entgegn e te Bo.
»Aber das, was Sie geschildert haben, ist die Reise zu den Toten – das Sausen, die Schwärze, der strahlende Glanz. Das ist der Weg zum Land der Toten, Mr. Bea u mont.«
»Aber ich wollte doch zu Lilly und war auch da, und sie lebt.«
Ein Zucken des Schmerzes lief über sein Gesicht, als ihm klar wurde, was geschehen sein mochte. War es mö g lich, daß sie tot war? War das vielleicht der Grund, we s halb er sie nicht hatte berühren können, weshalb er nicht
Weitere Kostenlose Bücher