Wes - Wächter der Nacht
esnicht geschafft. Die Mutter liegt im Koma. Ich schätze, sie weiß Bescheid und will einfach nicht aufwachen.“
„Oh Gott, das muss entsetzlich gewesen sein!“ In seinen Augen glommen tiefes Mitgefühl und Besorgnis auf. Aber er blieb stehen, wo er war. Er versuchte nicht einmal, sie tröstend in die Arme zu nehmen.
„Es ist immer noch entsetzlich“, antwortete sie. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als von ihm in die Arme genommen zu werden. „Es wird sich auch Montag noch entsetzlich anfühlen, wenn ich wieder zum Dienst muss. Aber jetzt muss ich wirklich unter die Dusche. Schlimm?“
Er schüttelte den Kopf und schaltete die Herdplatte ab, auf der sein Hühnereintopf köchelte. „Natürlich nicht.“ Ein leiser Fluch. „Britt, ich kann gut verstehen, wenn du jetzt nichts essen möchtest. Es macht mir nichts aus, wenn du …“
„Danke, lieb von dir, aber ich habe heute noch keinen Bissen zu mir genommen.“ Vielleicht wollte er sie einfach nicht in den Arm nehmen. Vielleicht wusste er instinktiv, dass sie in Wirklichkeit mehr wollte, als nur in den Arm genommen zu werden. Dass sie zusammenbrechen würde, sowie er sie in die Arme schloss. Vielleicht hatte er einfach nur entsetzliche Angst davor. „Ich bin nicht so hungrig, wie ich sein sollte, aber wenn ich jetzt nicht bald etwas esse, dann kippe ich um.“
Wes nickte. „Dann ab unter die Dusche mit dir.“
Brittany nickte ebenfalls, den Blick immer noch fest auf ihn gerichtet. Wenn er auch nur die leiseste Bewegung in ihre Richtung getan hätte, hätte sie sich ihm um den Hals geworfen. Aber er tat es nicht. Und sie konnte den Ausdruck in seinen Augen einfach nicht deuten.
Sie drehte sich um, nahm ihre Tasche, ging damit ins Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Wes öffnete den Kühlschrank und nahm ein weiteres Bier heraus. Er öffnete die Flasche und stellte sie vor Brittany auf den Tisch.
„Hoppla“, sagte sie. „Was ist mit deiner Grenze?“
„Das ist meine Grenze“, antwortete er. „Nicht deine.“
„Und das macht dir nichts aus?“ Sie musterte ihn fragend.
„Nein, es macht mir nichts aus.“ Es gab heute Abend eine Menge, das ihm nichts ausmachte. Zum Beispiel, dass sie nach dem Duschen eine Jeans mit abgeschnittenen Beinen und ein enges T-Shirt angezogen hatte. Zwischen beiden lag ein Streifen Haut – genau genommen nur, wenn sie die Arme bewegte oder aufstand. Dann sah er ein wenig nackte Haut und ihren Bauchnabel.
Es reichte, um ihn verrückt zu machen. Und zwar auch jetzt, wo sie still am Küchentisch saß und nichts zu sehen war. Der Gedanke allein reichte.
Ihre Füße waren nackt, und sie trug rosa Nagellack auf den Zehennägeln. Aus irgendeinem Grund fand er das überaus sexy.
Allerdings betrachtete Wes auch Brittanys Knie und Ellbogen als überaus sexy.
Sie trug kein Make-up, und die Haare fielen ihr offen um die Schultern. Immer noch wirkte sie ein wenig müde, aber nicht mehr so aufgewühlt und erschlagen wie in dem Moment, als sie nach Hause gekommen war.
Er musste sich schwer zusammenreißen, um sie nicht in seine Arme zu ziehen. Das wäre nämlich ein Fehler gewesen. Wenn er sie auch nur berührt hätte, wäre er jetzt in Schwierigkeiten.
Dann hätte er sie nämlich geküsst, und verletzlich, wie sie im Moment war, hätte sie den Kuss womöglich erwidert. Und dann säßen sie jetzt nicht am Esstisch, sondern lägen nackt in ihrem Bett. Er wäre …
„Woran denkst du gerade?“, fragte sie.
Oh nein! Nein, nein. Er stand auf und trug die leeren Teller zur Spüle. „Ich habe daran gedacht, wie gern ich jetzt eine rauchen würde.“ Das war nicht einmal gelogen. Rund um die Uhr quälte ihn das Verlangen nach einer Zigarette.
„Tja, kannst du aber nicht.“
Zigaretten waren nicht das Einzige, was er nicht haben konnte. „Ich weiß. Ich gebe mir allergrößte Mühe, brav zu sein.“
„Du machst das großartig. Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss.“
Sie hatte ja keine Ahnung …
„Stimmt es eigentlich, dass Bobby Taylor und du einander nicht ausstehen konntet, als ihr euch zum ersten Mal begegnet seid?“
Wes lachte und holte ein paar Frischhaltedosen für die Essensreste aus dem Schrank. „Ja, das stimmt.“
„Erzähl mir eine Geschichte, Onkel Wesley! Erzähl mir diese Geschichte. Sie hat doch gewiss ein Happy End, richtig?“
„Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen“, gab Wes zu, froh, dass sie heute nicht darauf aus war, die finsteren Abgründe seiner Seele
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