Westwind aus Kasachstan
welche Tücken die alte Mühle noch hat.«
»Die alte Mühle wird euch sicher ans Ziel bringen.« Kiwrin war tief beleidigt. »Sie wird fahren, fahren, fahren, daß es eine wahre Wonne ist! Und wenn wir angekommen sind, werdet ihr sagen: Danke, danke, liebes Wägelchen, das hast du gut gemacht.« Kiwrin legte sich lang auf die Vordersitze. »Aber so etwas kommt ja nicht über eure Lippen. Ein undankbares Pack seid ihr.«
Er gähnte, rollte sich auf die Seite und begann nach zehn Minuten fürchterlich zu schnarchen.
Sie wurden nicht überfallen.
Ust-Kamenogorsk erreichten sie am frühen Nachmittag, nachdem sie noch viermal getankt hatten und Kiwrin nur noch ein Nervenbündel war, weil jeder seinen Bus beleidigte oder über ihn lachte.
Sie fuhren sofort zum Krankenhaus und meldeten sich beim Pförtner. Weberowsky schien im ganzen Haus bekannt zu sein, denn als Kiwrin den Namen nannte, griff der Mann sofort zum Telefon. Er blickte Erna an, und Mitleid stand in seinen Augen.
Es dauerte eine Weile, bis sich der Chefchirurg meldete.
»Sie sind da?« sagte er. »Die ganze Familie? Und noch zwei andere Herren? Ich komme sofort hinunter.«
Der Pförtner legte auf und blickte Erna wieder an. »Der Chefarzt kommt sofort.«
»Wie … wie geht es meinem Mann?« Ernas Stimme war ganz klein. Hermann, der sie untergefaßt hatte, zog sie an sich.
»Das weiß ich nicht.« Der Pförtner starrte auf das Telefon. Der flehende Blick dieser Frau traf ihn tief ins Herz. »Der Chef wird es Ihnen sagen.«
»Aber er lebt noch …«
»Ja … das ist sicher.«
Wenig später öffnete sich die Lifttür. Chefchirurg Dr. Anatol Wassiljewitsch Anissimow trat hinaus und ging ohne Zögern auf Erna zu. Kiwrin wollte etwas sagen, aber Heinrichinsky stieß ihm den Ellbogen in die Seite.
»Frau Weberowsky, ich freue mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Anissimow und drückte ihr die Hand. »Wie ich sehe, die ganze Familie ist versammelt. Und Freunde haben Sie auch mitgebracht?«
»Ich bin der Pfarrer von Nowo Grodnow«, sagte Heinrichinsky und trat vor. »Peter Georgowitsch. Ich habe gedacht, daß Weberowsky mich brauchen kann.«
»Michail Sergejewitsch Kiwrin.« Auch er trat einen Schritt vor und stellte sich neben den Pfarrer. »Bezirkssekretär und Deputierter des Bezirkes Atbasar. Ich bin Wolfgang Antonowitschs bester Freund …«
»Sie werden Herrn Weberowsky nicht sprechen können.« Der Chefarzt schüttelte den Kopf. »Sie können ihn durch eine Fensterscheibe sehen, mehr nicht.«
»Ist … ist es so schlimm?« Erna klammerte sich an Hermann fest. Auch Gottlieb trat an ihre Seite und legte den Arm um ihre Schultern.
»Wir sind bis jetzt mit der Entwicklung zufrieden. Seit heute morgen ist er bei Bewußtsein. Das ist ein großer Fortschritt.«
»Weiß mein Vater, wie es um ihn steht?« fragte Hermann.
»Nein. Wir haben es ihm noch nicht gesagt. Es ist zu früh. Wir wissen nicht, wie er darauf reagiert. Er könnte einen Schock bekommen, und der kann bei seinem Zustand tödlich sein.« Er sah Erna an, als er weitersprach. »Ich möchte Sie bitten, Frau Weberowsky, Ihrem Mann nicht zu sagen, daß er querschnittgelähmt ist.«
»Ich werde gar nichts sagen.« Erna löste sich aus den Armen ihrer Söhne. Ihr Blick wanderte von einem zum anderen. »Ich will allein mit ihm sein.«
»Mutter –«
»Bitte. Laßt mich mit Vater allein. Ihr hört doch, es ist zu anstrengend für ihn, wenn ihr alle um sein Bett steht. Der Herr Chefarzt verbietet es ja auch.«
»Ja. Ich verbiete es.« Dr. Anissimow trat an Ernas Seite und hakte sich bei ihr ein. So eine Vertrautheit war ihm sonst fremd, aber hier hatte er einfach das Bedürfnis, diese tapfere Frau unterzufassen und ihr damit zu sagen, wie sehr er mit ihr litt. Als Chirurg, der täglich die Leiden der Menschen sieht, muß man Abstand halten können, aber Weberowskys Tragik erschütterte sogar den sonst so routinierten Anissimow. »Sie können ihn durch das Fenster sehen«, sagte er zu den anderen. »Jede Aufregung muß vermieden werden.«
»Wolfgang Antonowitsch wird sich nicht aufregen, wenn er mich sieht!« Kiwrin, nervös bis in die Fingerspitzen, war nahe daran, wieder loszutoben. »Er wird sich freuen.«
»Die Beurteilung seines Zustandes überlassen Sie bitte mir.« Anissimows Stimme war jetzt kalt und abweisend. Er drückte Ernas Arm. »Kommen Sie, Frau Weberowsky. Es ist jetzt die beste Zeit. Nachher bekommt Ihr Mann eine Spritze für die Nacht, da wird er schlafen. Ruhe ist
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