Wetterleuchten
Rückrufe, unbeantwortete E-Mails, keine Updates auf Facebook, ein überquellender Briefkasten, ein Stapel ungelesener Zeitungen, niemand, der die Tür öffnete, wenn es klingelte ... Becca fand diese Informationen, indem sie durch die neuesten Ausgaben der wichtigsten Tageszeitung von San Diego surfte. Aber bisher hatte nach wie vor niemand Jeff Corrie als möglichen Verdächtigen in dieser Angelegenheit ausgemacht. Er behauptete, genauso wenig über Connors Aufenthaltsort zu wissen wie alle anderen.
Von wegen, dachte Becca. Sie hatte Jeffs Flüstern gehört, kurz bevor sie und ihre Mom geflohen waren, und es hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er bei Connors Verschwinden seine Hand im Spiel gehabt hatte. Dasselbe Flüstern verriet ihr auch, dass Jeff Corrie mehr als bereit war, sich Becca und ihrer Mutter auf dieselbe Weise anzunehmen, wenn sie nicht mitspielten. Deshalb waren sie den ganzen Weg bis nach Washington geflohen, um dem Mann zu entkommen. Beccas Mom Laurel versteckte sich in Nelson, British Columbia, wohin sie sich begeben hatte, nachdem sie Becca an der Fähre nach Whidbey Island abgesetzt hatte.
Aber nichts war so gelaufen, wie sie es geplant hatten, und jetzt lebte sie morgens, mittags und nachts in der Angst, dass Jeff Corrie wieder auf Whidbey Island auftauchen würde. Er hatte sie bereits einmal mithilfe eines Handys, Derrics Sturzes und der Polizei hier aufgespürt. Zwar hatte er sie nicht gefunden und die Insel wieder verlassen, aber das bedeutete nicht, dass er aufgegeben hatte. Das war nicht seine Art.
Vorerst hatte er eigene Probleme in San Diego, was Becca nur recht war. Sollte er mal schön dort bleiben und Fragen über Connors Verbleib beantworten. Irgendwann würden ihm die Lügen schon ausgehen. Dann würde er verhaftet, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt werden, und Becca und ihre Mom wären endlich in Sicherheit. Bis dahin saß sie jedoch auf Whidbey Island fest und wartete, dass Laurel aus British Columbia zurückkehrte. Sie würde zurückkommen, wenn sie nicht mehr in Lebensgefahr schwebten. Das sagte sich Becca mit jedem neuen Tag.
Und das waren nur einige der Dinge, die Derric Mathieson über Becca und ihr Leben wissen wollte. Sie konnte ihn verstehen, aber sagen konnte sie es ihm auch nicht. Zum Teil, um seine Sicherheit nicht zu gefährden. Aber zum Teil auch, weil sein Dad der stellvertretende Sheriff von Island County war.
Nach der Schule war ihr hundeelend zumute. Sie hatte vor Schulschluss noch eine Unterrichtsstunde mit Derric, vor deren Beginn sie ihm gesagt hatte: »Lass uns nicht streiten, okay?« Sie hatte ihre Finger in seine verschränkt, damit sie wie immer zusammen zum Klassenraum schlendern konnten. Aber er hatte ihre Hand nicht genommen und lediglich erwidert: »Geschenkt, Becca«, bevor er im Klassenzimmer verschwand. Dort hielt er den Blick fest auf den Lehrer gerichtet und machte sich ununterbrochen Notizen. Becca schien es, als schreibe er alles Wort für Wort mit.
Nach der Stunde war er so schnell verschwunden, dass sie keine Chance gehabt hatte, noch einmal mit ihm zu reden. Als sie das Zimmer verließ, sah sie ihn am Ende des Gangs. Eine der Cheerleaderinnen der Schulmannschaft hatte ihn aufgehalten und scherzte und schäkerte mit ihm. Becca marschierte einfach davon. Hundeelend beschrieb nicht mal annähernd, wie sie sich fühlte.
Sie beschloss, nicht mit dem Schulbus zurück in ihr Versteck im Wald zu fahren. Es befand sich entlang des Highways auf halber Strecke zur nächsten Stadt. Sie konnte später einen der öffentlichen Inselbusse nehmen, was kein Problem war. Im Moment brauchte sie einfach ein wenig Zeit weit weg von allem, was mit der South Whidbey Highschool zu tun hatte, und sie wusste, wo sie sich eine Verschnaufpause gönnen konnte.
Es war ein sehr langer Spaziergang an einem sehr kalten Tag, aber Becca würde es überleben. Sie hatte bereits drei Schnee-Einbrüche, zahllose Stürme und heftige Regengüsse erlebt, seit sie im Wald wohnte. Von der Maxwelton Road zur Clyde Street zu laufen, würde sie schon nicht umbringen.
Es war ein fast einstündiger Marsch über Hügel und durch Wälder und Felder, und am Ende war Becca von der Eiseskälte so durchgefroren, dass ihr alles wehtat. Das nächste Mal, schwor sie sich, würde sie ihr Fahrrad mit in die Schule nehmen, wenn sie das Bedürfnis hatte, die Frau zu besuchen, die über einem Strand namens Sandy Point wohnte. Als sie das graue Haus mit Blick aufs Meer erreichte und
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