Wetterleuchten
erschießen.«
Diana zeigte auf eine Ecke in der grell gestrichenen Küche: gelb, rot, orange und grün. Angst vor kräftigen Farben hatte sie nicht. Sie stellte einen Teller mit Keksen auf den lilafarbenen Tisch, holte Teekanne und Teetassen und setzte sich zu Becca.
»Er will eine Robbe töten«, sagte sie.
»Eine Robbe? Ist das nicht verboten?«
»Doch, aber das ist ihm egal. Er will sie erschießen, um sich nicht der Wahrheit stellen zu müssen.«
»Welcher Wahrheit?«
»Wie bei den meisten Menschen: Dass er für seine Handlungen selbst verantwortlich ist. Er hat sein Boot auf See verloren. Und er redet sich ein, dass eine Robbe daran schuld sei. So einfach ist das. Na ja, wenn Wahnsinn überhaupt jemals einfach sein kann. Er ist während eines schlimmen Sturms, wie wir sie oft im Winter hier haben, raus aufs Meer gefahren. Er war dem Sturm nicht gewachsen und hatte außerdem vergessen, seine Heckstopfen mitzunehmen. Wahrscheinlich hatte er auch getrunken, aber das würde er niemals zugeben. Jedenfalls ist das Boot gesunken, und er hatte noch Glück, dass er’s bis ans Ufer geschafft hat. Es ist da vorne passiert ...« Sie zeigte auf den Strand, auf dem sie kurz zuvor noch gestanden hatten. »Er möchte lieber als Opfer betrachtet werden und nicht als jemand, der sein eigenes Unglück heraufbeschworen hat. Aber das würden wahrscheinlich die meisten Menschen tun. Das liegt in unserer Natur.«
»Eine Robbe«, murmelte Becca. »Immerhin besser, als einen anderen Menschen zu beschuldigen.«
Diana hob ihre Teetasse und sah Becca an. Dann wiegte sie ihren Kopf hin und her, als wollte sie sagen: »Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Was?«, fragte Becca.
Diana lächelte. »Ach, nichts.«
»Von wegen. Sie meinen was ganz Bestimmtes. Das weiß ich genau. Sagen Sie es mir.«
Diana kicherte und fuhr sich wieder mit der Hand durch ihr fransig geschnittenes graues Haar. »Es ist bloß so: Es gibt solche Robben und solche Robben. Keine Robbe verträgt es, wenn man auf sie schießt, aber manche ... Manchen Robben sollten Männer wie Eddie um keinen Preis zu nahe kommen.«
»Warum?«
»Weil sie viel zu wertvoll sind, um vorzeitig zu sterben oder verwundet zu werden. Oder sogar, um an Land gebracht zu werden, Becca.«
Mehr sagte Diana nicht zu dem Thema. Als Becca sie drängte, antwortete sie: »Glaub mir, mein Schatz, das ist alles.« Sie schenkte sich noch Tee ein und sagte: »Wir beide haben uns eine Weile nicht gesehen, deshalb bin ich froh, dass du hier bist. Aber ich habe das Gefühl, dass du aus einem ganz bestimmten Grund gekommen bist.«
Stimmte das?, fragte Becca sich. Bei Diana Kinsale hatte sie sich von Anfang an wohlgefühlt, seit sie sie am Abend ihrer Ankunft auf der Insel kennengelernt hatte. Aber warum brauchte sie dieses Gefühl von Geborgenheit gerade jetzt?
»Es läuft nicht so gut mit Derric«, musste sie eingestehen. Diana sagte nichts und wartete stattdessen geduldig auf die Fortsetzung. Viel mehr konnte Becca ihr aber nicht sagen, ohne ihr Versteck preiszugeben, deshalb entschied sie sich für: »Beziehungen sind nicht so einfach.«
»Ist Derric dein erster Freund? Ich meine, dein erster richtiger Freund, mit allem, was dazugehört?«
»Schon. Und er ... Er will Sachen von mir, die ich ihm nicht geben kann.« Becca verzog das Gesicht, als ihr klar wurde, wie sich das anhören musste. »Es geht nicht um Sex. Na ja, irgendwie geht’s immer um Sex, oder? Aber das meine ich gerade nicht. Wir haben es noch nicht getan. Ich bin bloß ... Ich glaube, ich bin noch nicht bereit dafür, und das habe ich ihm gesagt, und er setzt mich auch nicht unter Druck. So ist er nicht. Ich meine, irgendwie bedrängt er mich schon, aber das ist sonst nicht seine Art.« Sie hielt inne, um zu überlegen, wie sie sich am besten ausdrücken sollte. Sie entschied sich für: »Manchmal sind wir zusammen und manchmal nicht. Ich glaube, im Augenblick ... sind wir’s nicht.«
»Das tut sicher weh«, sagte Diana. »Ich weiß, wie wichtig er für dich ist.«
Derric war ihr mehr als wichtig. Er war ihr unglaublich nahe, in mehr als einer Beziehung. Becca liebte ihn und begehrte ihn, ja. Aber manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie er war und er sie. Als würden sie von Zeit zu Zeit ihre Seelen tauschen. Und wenn es Probleme gab, war es, als hätte sie keine Seele mehr. Tief in ihrem Innern wusste Becca, dass Derric genauso empfand. Wie geht man damit um, wenn ein anderer auch deine Seele ist?, fragte sie sich. Was
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