Wetterleuchten
trug seine übliche Montur: Flanellshirt, schwarze Baggy-Jeans, Allwettersandalen mit dicken Sohlen und seinen Filzhut. Außerdem trug er selbstgestrickte Socken in knalligen Farben und hatte seinen Gitarrenkoffer dabei. Das bedeutete entweder, dass das Trio mit dem Proben fertig war oder dass sie wegen des Lärms aufgegeben hatten.
Seth zuckte zusammen und fummelte an seinem Ohr-Plug, als Rufe aus der Galerie laut wurden: »Auf keinen Fall!«, »Das hat etwas zu bedeuten, und es ist bestimmt was Schlimmes!« und »Setz dich wieder hin, verdammt!« Dann sah er Becca und nickte ihr auf die für ihn typische Weise zu: Er hob bloß leicht das Kinn, das war alles.
Als er bei ihr war, sagte er: »Boah ey, ich hau hier ab. Kommst du mit?« Damit bahnte er sich einen Weg zur Tür und sagte noch: »Bis später« zu ein paar Leuten und: »Nein, ist schon okay« zu jemandem, der an einem Tisch saß und sich zu ihm hinüberbeugte.
Becca folgte ihm nach draußen, wo der Wind stärker geworden war und ihr der hereinbrechende Abend kälter denn je erschien. Sie sagte: »Was ist denn da drin los?«
»Das Treffen der Robbenbeobachter«, sagte er.
»Der was?«
»Ein Haufen Leute von der ganzen Insel, die jedes Jahr nach einer abgefahrenen Robbe Ausschau halten.« Er schnipste mit dem Daumen in Richtung Gemeindezentrum. »Die führen sich auf, als würde die Apokalypse bevorstehen, Beck. Die Robbe taucht ein paar Monate früher auf als sonst, und schon denken die Leute, das liegt an der Erderwärmung oder Jesus Christus kommt zurück.« Er setzte sich den Filzhut auf den Kopf und sah sie an. »Was willst du eigentlich hier?« Er blickte sich um. »Verdammt, Beck, du solltest dich lieber nicht so offen in der Stadt zeigen.«
»Er ist immer noch in San Diego«, sagte sie. »Ich habe im Internet nachgesehen. Die fangen endlich an, nach seinem Partner zu fragen. >Wo ist Connor? Und warum hat er seit letztem September seine Post nicht abgeholt?< Na, so was! Wenn Jeff Corrie die Stadt verlässt, sind sie ihm auf den Fersen.«
»Das glaubst du«, erwiderte Seth. »Und wie kommst du jetzt nach Hause?« Als sie ihn daraufhin hoffnungsvoll ansah, lachte er und sagte: »Ach so. Na, dann komm.«
»Ja! Deshalb mag ich dich so«, sagte sie. »Du kannst meine Gedanken lesen.«
»Schön wär’s«, seufzte er.
Kapitel 7
D erric Mathieson kam gerade aus der Gemeinschaftspraxis von Langley, als Becca King und Seth Darrow am Praxisparkplatz vorbeifuhren. Er humpelte mit seinem Gehgips zum alten Volvo seiner Mutter, und kaum sah er die beiden im Auto, hatte Derric auf einmal das dringende Bedürfnis, jemanden zu schlagen.
Zwei Dinge hielten ihn davon ab, es Darrow zu zeigen. Erstens war seine Mutter direkt hinter ihm und schloss gerade die Praxis ab. Und zweitens würde es sowieso nichts bringen. Ganz abgesehen davon, dass sein Bein nicht in Ordnung war. Ja, er könnte Darrow problemlos umhauen. Und wahrscheinlich würde er für den Bruchteil einer Sekunde Genugtuung verspüren, wenn Darrow mit der Nase voran auf den Boden knallte. Aber dann müsste er sich mit seiner Mutter auseinandersetzen. Außerdem würde er dadurch seine Probleme mit Becca auch nicht lösen. Im Gegenteil.
Der Ärger mit seiner Mutter wäre schlimm. Achtzig Prozent der Zeit war Rhonda Mathieson die beste Mutter, die man sich vorstellen konnte. Sie war auf seiner Seite, stand voll hinter ihm, hielt ihm den Rücken frei und was sonst noch alles dazugehörte. Und das hatte sie seit dem Augenblick getan, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, im Waisenhaus von Kampala, als er sechs Jahre alt war. Sie und sein Vater hatten zwei Jahre gebraucht, um die Formalitäten für die Adoption zu regeln, und in der ganzen Zeit hatte sie ihm immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie seine Mutter sein wollte, ganz gleich, was geschah. Sie war immer wieder für längere Aufenthalte nach Uganda geflogen, hatte ihm fast jeden Tag geschrieben und regelmäßig im Waisenhaus angerufen, was sehr teuer gewesen sein musste. Sie war einfach die Beste.
Aber die anderen zwanzig Prozent... Die waren das Problem. Er war Afrikaner. Sie nicht. Als seine Eltern starben, war er fünf Jahre alt und ganz allein. Das hatte sie nicht erlebt. Sie wusste nicht, wie man sich fühlte als Schwarzer auf einer Insel, die fast ausschließlich von Weißen bevölkert war. Sie konnte auch die Leere in seinem Innern nicht nachvollziehen. Sie spürte, dass da etwas war, sicher. Aber sie konnte es nicht verstehen.
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