Wetterleuchten
Und um das wettzumachen, lauerte sie auf jede kleine Stimmungsschwankung von ihm. Wenn er die Stirn runzelte, hielt sie den Atem an. Wenn sie dachte, dass er traurig war, stand sie in der Tür zu seinem Zimmer und versuchte, ihn mit Eis, Keksen, Pizza, einer Nackenmassage oder einem Ausflug zum Einkaufszentrum aufzuheitern. Sie wollte so sehr, dass er glücklich, zufrieden und mit sich im Reinen war. Aber das war gar nicht möglich. Und dafür gab es Gründe. Gründe, die er ihr allerdings niemals hätte verraten können.
Doch der Ärger mit Becca wäre noch schlimmer als der mit seiner Mutter. Monatelang hatte sie einen großen Teil seiner Gedanken eingenommen: seit er Anfang November aus dem Koma erwacht und als Allererstes ihrem Blick begegnet war und die Berührung ihrer Hand gespürt hatte, die seine fest umklammerte. Schon vorher hatte er gewusst, dass sie etwas an sich hatte, das ihn in ihren Bann zog; seit dem Augenblick, als er sie mit ihrem Fahrrad, ihrem Rucksack und ihren Satteltaschen auf der Fähre gesehen hatte. Er wusste aber auch, dass sie das merkwürdigste Paar waren, das man sich vorstellen konnte. Doch das hatte ihm von Anfang an nichts ausgemacht. Er wollte nur in ihrer Nähe sein. Er begehrte sie, sicher. Bei ihrem ersten Kuss wusste er das bereits nach fünf Sekunden. Selbst ihre Stimme am Telefon hatte ihm das klargemacht. Aber in seiner Beziehung zu Becca ging es um mehr als nur um Sex. Die Verbindung zu ihr war einzigartig und mit nichts zu vergleichen.
Und diese Verbindung bedeutete die Welt für ihn. Er wollte, dass sie weiter wuchs. Und in seiner Vorstellung konnte sie nur wachsen, wenn man immer ehrlich zueinander war und die Wahrheit sagte. Sie kannte sein größtes Geheimnis, und das machte ihm nichts aus. Aber sie waren schon seit Mitte November zusammen, und er wusste immer noch so gut wie gar nichts über sie. Er hatte sich eingeredet, dass er sie nach und nach kennenlernen würde. Seine Mutter und sein Vater hatten das Gleiche gesagt. »Jeder Mensch ist anders, Schatz. Dräng sie nicht«, sagte seine Mutter. »Bleib gelassen, Junge«, war der Rat seines Vaters.
Aber wie sollte er das tun, wenn Seth Darrow die ganze Zeit in der Nähe war? Er hatte keine Ahnung. Nicht die geringste.
»Warum kann ich keinen Jungen zum besten Freund haben?«, fragte Becca, als er mit Darrow anfing.
»Es geht nicht darum, ob du einen Jungen zum besten Freund hast«, erwiderte Derric.
»Worum geht es dann? Glaubst du, wir knutschen hinter deinem Rücken herum? Vertraust du mir nicht? Ist das der Grund?«
»Nein, du vertraust mir nicht«, sagte Derric.
Aber damit begab er sich auf gefährliches Terrain. Er spielte darauf an, was er von ihr erwartete, um das Gleichgewicht zwischen ihnen wiederherzustellen. Sie kannte die Dunkelheit in seinem Innern, das Geheimnis, das er vor der ganzen Welt verbarg. Die Dunkelheit in ihr kannte er nicht. Und seit Dezember wusste er nicht einmal, wo sie wohnte. Das wusste keiner, außer einem. Und das war natürlich Darrow.
Als er dann sah, wie die beiden die Second Street entlangfuhren, wusste Derric, dass Seth Darrow sie nach Hause bringen würde. Sie saßen wahrscheinlich in seinem VW, lachten und unterhielten sich, und wenn sie an ihrem Ziel angekommen waren, würden sie noch mehr lachen und sich unterhalten. Derric biss die Zähne zusammen. Als seine Mutter sagte: »Ist das nicht Becca?«, und schon ansetzte, um ihr zuzurufen, sagte er: »Lass es«, und klang dabei ziemlich ungehalten. Er spürte, wie sie ihn ansah.
Wenigstens wartete Rhonda, bis sie nach Hause gekommen waren, bevor sie etwas sagte. Sie lebten nahe am Goss Lake, genau westlich von Langley; nicht direkt am See zwischen den Tannen, die ihn umgaben, sondern an der nahe gelegenen Straße, die den gleichen Namen trug wie der See. Der Himmel war schwarz, als sie die Einfahrt hochfuhren. Der Wagen des Sheriffs war nicht da. Das bedeutete, dass Dave Mathieson noch arbeitete. Und das gab Rhonda Zeit, um ein bisschen nachzubohren, dachte Derric. Er machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Und er wurde nicht enttäuscht. »Warum hast du Becca nicht Hallo gesagt?«, fragte sie.
Mist, dachte er.
»Willst du darüber sprechen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Habt ihr Knatsch?«
Er zuckte die Achseln.
»Ich weiß, wie viel sie dir bedeutet.«
Allerdings. Sie bedeutete ihm alles, aber was spielte das schon für eine Rolle? Er sagte: »Ist schon okay, Mom.«
»Ich seh doch, dass es nicht okay ist. Ist
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