Wetterleuchten
Dann nahm Becca ihr Mundstück heraus und winkte damit Jenn zu. Jenn nahm es, blies das Wasser raus und begann einzuatmen. Nach und nach ließ ihre Panik nach, und dann sah sie es: Becca blutete im Gesicht.
Als sie an die Oberfläche kamen, waren Chad und Annie direkt hinter ihnen. Chad trug ihre Masken, und Annie hatte die Flosse eingesammelt, die Jenn verloren hatte. Becca blutete unter dem Auge, und das Blut hatte sich mit dem Salzwasser zu einer rötlichklaren Flüssigkeit vermischt, die ihr über das Gesicht floss.
Chad sah sie an, fluchte und zog sich hoch ins Boot. Dann griff er ihr unter die Achseln und hievte sie ebenfalls an Bord. Jenn und Annie kletterten hinterher.
Zunächst sagte niemand ein Wort, außer den knappen Anweisungen, die Chad zur Versorgung von Beccas Wunde gab. Erst nachdem der Erste-Hilfe-Koffer an Deck gebracht worden war und Becca ein Pflaster unter dem Auge hatte, fragte Chad: »Was war da unten los? Hat dich die Robbe angegriffen? Ist alles in Ordnung mit dir? Was ist denn genau passiert?«
Doch Jenn sagte nur: »Wenn wir nicht bestanden haben, bring ich dich um.«
»Ja, ja, ihr habt bestanden. Ihr habt das richtig gut gemacht. Und Becca hat superschnell reagiert. Das mit der Wechselatmung hat auch gut geklappt. Und ihr seid schön langsam an die Oberfläche getaucht, trotz des Zwischenfalls. Wirklich gut. Alles war genau so, wie es sein sollte.«
Jenn sah Becca an. Wenn sie nur ein Wort sagte, wäre Jenn dran. Chads Lobeshymnen entnahm sie, dass er keine Ahnung hatte, was da unten passiert war, weil er es wahrscheinlich nicht gesehen hatte. Eigentlich war er in der Tiefe für sie verantwortlich, aber er hatte komplett versagt. Und Annie hatte auch nichts gesehen. Selbst jetzt war sie nur über ihre Kamera gebeugt und sah sich die Fotos an, die sie unten geschossen hatte.
Jenn sagte zu Becca: »Danke für die Hilfe. Tut mir leid wegen ...« Sie hob die Augenbrauen und drehte den Kopf in Richtung der Masken, die auf dem Deck lagen.
»Kein Problem«, sagte Fettarsch. »Du hast das gut gemacht. Komisch mit den Masken, oder? Was ist da eigentlich passiert?«
Sie verpetzte Jenn nicht, und der einzige Grund, den Jenn sich dafür vorstellen konnte, war die Tatsache, dass sie unter Wasser Tauchpartner gewesen waren. Jenn sagte: »Du hast was bei mir gut. Du hast mir das Leben gerettet«, und sie beide wussten, dass sich das nicht nur darauf bezog, dass Becca ihr unter Wasser geholfen hatte. Dass Jenn sich wieder von Nera hatte erschrecken lassen, würde Becca mit keinem Wort verraten.
Es dauerte nicht lange, bis der Vorfall die Runde machte. Chad ging davon aus, dass die Robbe die Mädchen angegriffen hatte. Und als sie am Jachthafen von Langley ankamen, legte gerade das Boot eines Robbenbeobachters an. Er sah sie, und er sah Beccas Pflaster, und es entspann sich eine Unterhaltung. Kurz darauf lief die Hotline der Robbenbeobachter heiß.
Zwangsläufig gab es eine neue Versammlung. Die Menschenmenge war so groß, dass sie von der Galerie im South-Whidbey-Gemeindezentrum in die Methodistenkirche an der Ecke zur Third Street umziehen musste.
Die Robbenbeobachter hatten alle Menschen mobilisiert, die irgendeine Meinung zur schwarzen Robbe hatten, ganz gleich, ob positiv oder negativ. Als Jenn und Annie in der Kirche ankamen, waren die meisten dieser Leute in Streitgespräche verwickelt.
Es waren so viele, dass sie nicht in den Altarraum passten, also waren sie in einen Versammlungsraum im gleichen Gebäude ausgewichen und hatten rasch Stühle aufgestellt. Vor den Stühlen und hinter einer Kanzel, die genau zu diesem Zweck aus dem Altarraum hierher gebracht worden war, stand Ivar Thorndyke und versuchte, die Menge zu beruhigen, während Becca als Ausstellungsstück A auf einem Stuhl saß und Ivar als lebender Beweis dienen sollte, dass man der Robbe nicht zu nahe kommen durfte.
Sie saß vornübergebeugt und trug eine Baseballkappe auf dem Kopf. Sie hatte so viel Make-up im Gesicht, dass sie aussah wie jemand, der inkognito bleiben wollte. Jenn betrachtete sie und konnte sich einen Gedanken nicht verkneifen: Becca hatte sie zwar vor dem Ertrinken bewahrt, aber irgendjemand musste der ollen Fettkuh mal endlich sagen, dass das ganze Zeug auf ihrem Gesicht nicht gerade vorteilhaft war. Plötzlich hatte Jenn ein schlechtes Gewissen. Eigentlich war es nicht fair, von Becca immer noch als Fettkuh zu sprechen, nachdem sie sie gerettet hatte, oder? Echt komisch, dachte sie. Nie im Leben hätte
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