Whisper (German Edition)
Schweiß aus allen Poren trat. Das Müsli, welches sich in seinem Futtertrog befand, hatte er nicht angerührt, das Heu mittlerweile in der Box verteilt. Auch Wasser hatte er keines getrunken. Der Eimer war voll.
„Tom“, sprach Jasmin ihn an und legte die Hand auf seine Nüstern. Er blies erregt hinein, um gleich darauf wieder einen Kreis zu drehen. Angespannt blieb er abermals bei ihr stehen. „Wenn du sprechen könntest, würdest du mir dann sagen, was los ist?“ Das Tier schnaubte hart und gespannt. Wieder drehte er einen Kreis, schlug mit einem Hinterhuf gegen die Wand, dass das Holz ächzte und stöhnte.
„Hey, ist ja gut!“ Sie griff ihm an den Hals, um ihn zu beruhigen und schrak wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als sie plötzlich ein lautes Krächzen vernahm. Jasmin wandte sich ruckartig um, sprang durch die Stallgasse, war mit wenigen Schritten bei der großen Schiebetür und sah gerade noch den dunklen Vogel im Schein des Lichtes auffliegen und in der Nacht verschwinden. Ein Windhauch streifte sie und vermittelte ihr ein seltsam warnendes Gefühl. Tom drosch abermals gegen die Boxenwand, buckelte in seiner Box und quiekte dabei leise. Das Mädchen sah auf den toten Hund. Ein Hund, nur ein Hund, aber sie hatte seinen Tod gesehen. Sie hatte ihn gesehen! Verdammt nochmal! Jasmin stützte sich am Türrahmen ab. War es richtig zu warten? Zu warten, bis die Helligkeit des Tages eine Suche möglich machte? Oder war es ein Fehler? Die Raben … Tom … Es war ein Fehler! Folge den Zeichen. Die Raben werden dich leiten. Sie hatte Taps Tod gesehen. Mit Hilfe des Kalbes war es ihr möglich gewesen, den Bären zu sehen. Geschlachtet und ausgeweidet, seines Hauptes entnommen, der Tatzen beraubt. Die Raben … sie kamen ganz sicher nicht umsonst.
Hilfesuchend sah sie zum Haus zurück. David und der Wildhüter. Machte es Sinn sie zu alarmieren? Was würden sie tun? Ihr erklären, dass es in der Nacht zu dunkel und somit zu gefährlich war, hinauszureiten? Oder ihr verdeutlichen, dass es vernünftiger war, auf die RCMP zu warten?
„Dann ist es vielleicht zu spät!“
Jasmin trat wieder in den Stall zurück und schritt wie in Trance zur Sattelkammer. Toms Sattel, das kaputte Zaumzeug. Tom, der nie davonlief und es jetzt doch getan hatte.
Nur der Blick des Pferdes. Achte nur auf den Blick des Pferdes. Deutlich hallten diese Worte durch ihren Kopf. Der Blick des Pferdes hatte bisher so viel Bedeutung für sie gehabt. Sie sollte darauf vertrauen, was die großen Mächte ihr zu sagen versuchten. Der Vogel … sie musste nur zuhören.
Jasmin schnappte sich die Satteldecke und trug sie hinüber zur Box. Tom wandte sich ihr zu und beobachtete ruhig ihr Tun. Jasmin griff über seine Nase, fühlte den warmen Atem des Tieres und suchte sein Auge. Sie starrte in die dunkle Pupille, fühlte die Unruhe darin und hätte schwören können, dass Tom sie eindeutig um Hilfe bat. Tom war nicht abgehauen. Er hatte nicht hirnlos die Flucht ergriffen, um zum heimatlichen Stall zurückzulaufen. Er war gekommen, um sie zu holen. Sie, die helfen konnte, die als Einzige die Fähigkeit hatte, zuzuhören.
Jasmin strich dem Pferd über den Hals.
„Beruhige dich, Tom. Ich habe verstanden.“ Jasmin legte die Satteldecken über die Boxenwand und hastete wieder in die Sattelkammer zurück. Mit einem Aufseufzen wurde ihr klar, dass sie es das letzte Mal nicht geschafft hatte, den Sattel zu tragen, geschweige denn ihn aufs Pferd zu legen. Wie sollte sie das Ding jetzt bewegen und auf Toms Rücken bekommen? Vorsichtig fasste sie nach dem schweren Westernsattel, wollte ihn anheben … und scheiterte.
„Verdammter Mist“, fluchte sie in sich hinein und überlegte fieberhaft, wie sie den für sie allzu schweren Sattel auf Toms Rücken bekommen konnte, ohne daran zu verzweifeln. Es war ihr durchaus möglich, ohne Sattel zu reiten, doch ohne Sattel hatte sie einfach keinen Halt. Sich festhalten? Sie glaubte nicht daran, dass ihre Hände das noch konnten. Wenn Tom zu klettern beabsichtigte, würde sie vom Rücken rutschen und nie wieder raufkommen, denn die Kraft, sich hochzuschwingen, hatte sie nicht. Wie sollte sie … Jasmin hielt inne. Sie hatte zwar kaputte Hände, aber ihre Arme waren noch in Ordnung. Wenn sie ihren Arm komplett unter den Sattel schob, konnte sie ihn vielleicht transportieren. Es kam auf einen Versuch an. Vorsichtig ging sie in die Hocke und schob ihren Arm bis zur Schulter unter den Sattel und versuchte erneut
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