Whisper (German Edition)
Der Regen hatte den Boden schneller aufgeweicht, als sie geglaubt hatten, wodurch die Pferden kaum noch Halt fanden und mehr rutschten als gingen. Einmal mehr zuckte ein Blitz über den Himmel, erzeugte ein zischendes Geräusch und der Donner folgte am Fuß. Es vibrierte wie bei einem Erdbeben. Die Spannung war deutlich zu spüren. Kinos Pferd versuchte anzugaloppieren, als ihm der Sturm einmal mehr die Äste ins Gesicht schlug. Es schnaubte erregt, machte wieder einen Satz zur Seite, rutschte.
„Kino …“, brüllte Stefan aus Leibeskräften. Aber der Sturm trug seine Stimme davon. Die Böe hatte sich genau in Kinos Richtung in den Bäumen verfangen, bog die Stämme und ein hartes Krachen erklärte, dass irgendwo das Holz zerbarst. Kino hörte zwar das Knirschen, hatte aber keine Ahnung, woher es kam. Er spürte das nervöse Pferd unter sich, bemerkte, wie es nach vorne drängte, wie dessen Beine über den Boden schlitterten, versuchte noch, es etwas zur Seite zu lenken, als eine trübe Vorahnung ihn dazu veranlasste, seinen Kopf zu heben. Kino hatte nur noch Zeit, seinem Pferd die Beine in den Leib zu pressen, sich zu ducken und zu hoffen, dass er schnell genug war. Das Tier machte einen mächtigen Satz nach vorne, wodurch der junge Indianer den Halt verlor. Er stürzte seitlich vom Pferd und im nächsten Moment begrub ihn das Unheil.
Stefan verhielt hinter ihm und musste machtlos mit ansehen, was sich vor seinen Augen abspielte. Er sah, wie der Sturm in die Bäume fuhr, registrierte, wie sich die Stämme bogen, und hörte auch das Krachen, als das Holz einer alten Douglaskiefer nachgab und zerbarst. Die Baumkrone stürzte, knallte auf die anderen Bäume, wurde aber durch ihr Eigengewicht nicht aufgehalten, sondern fiel weiter, zerschmetterte die Äste anderer Bäume und bahnte sich ihren Weg unaufhörlich bis zum Boden, dorthin, wo Kino war. Einen Sekundenbruchteil vorher bemerkte dieser die Gefahr. Stefan sah noch, wie sein Pferd einen Satz nach vorne tat und seinen Freund abwarf. Sekunden später rauschte der Stamm heran und überdeckte mit seinen weitverzweigten Ästen den Schauplatz, begrub alles, was sich unter ihm befand. Unheimliche Stille breitete sich aus, wenn nicht der prasselnde Regen und das dumpfe Grollen des Donners gewesen wäre, der anzeigte, dass der Sturm noch lange nicht zur Ruhe kommen würde.
„Kino“, brüllte Stefan aus Leibeskräften, kam mit seinem Pferd heran, sprang noch im Lauf aus dem Sattel, band es in höchster Eile an einen Ast und klettert durch das weit verzweigte Dickicht des Baumriesen und hoffte, seinen Freund irgendwo zu finden.
„Kino“, brüllte er ein weiteres Mal, fand den Stamm, überkletterte ihn und versuchte in dem Dschungel aus Zweigen, Ästen und Nadeln irgendwas auszumachen. Der Regen prasselte in Strömen auf ihn nieder, Wasser ran in waren Fluten über seinen Körper, aber das war vergessen in Anbetracht der Möglichkeit, der Baum könnte Kino erschlagen haben.
„Kino, wo bist du?“, brüllte er nun bereits zum dritten Mal und erhielt endlich Antwort.
„Ich bin hier, hier unten.“
Stefan versuchte sich an der Stimme zu orientieren, quetschte sich durch die Äste, kletterte über den halben Baum, als er unten am Boden endlich seinen Freund entdeckte.
„Kino, was ist los? Hast du dich verletzt?“ Er fluchte leise über einen abgebrochenen Aststumpf, an dem er hängen geblieben war, kletterte aber weiter.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete dieser. „Mein Bein ist eingeklemmt.“
Stefan schwante Schreckliches. Er zwängte sich weiter durch die Äste, kam endlich bei Kino an und konnte erkennen, in was für einer misslichen Lage er steckte. Der Baum hätte ihn vollkommen erwischt, aber nachdem der Stamm Äste hatte, war sein Fall abgefedert worden. Zudem lag der Stamm nicht direkt auf dem Boden, sondern wurde von seinen starken Ästen gehalten, und genau einer dieser Äste lag quer über Kinos Bein. Das Gewicht hatte ihn in den Matsch gedrückt. Er lag mit dem Rücken in einer Lache, während sich das Wasser immer mehr um seinen Körper sammelte. Einige Male hatte er versucht, sein Bein unter dem Ast herauszuziehen, konnte aber dem Gewicht des Baumes nichts entgegensetzen. Dieser hielt ihn mit Macht gefangen.
Stefan versuchte an dem Stamm zu ziehen, drückte sich mit dem Rücken dagegen, um ihn zu bewegen, allerdings rührte sich genau gar nichts.
„Shit“, brüllte er irgendwann, da ihm bewusst wurde, dass er seinem Freund nicht helfen
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